Gruenkohl und Curry
Patent für die Große Fahrt machte, damit qualifiziert wäre, nicht mehr nur in europäischen Seegebieten, sondern weltweit zu fahren, dann sei man durchaus bereit, ihm und seiner Familie eine neue Aufenthaltserlaubnis für die Zeit der Ausbildung zu geben. Bedingung sei allerdings, dass er sich für den nächstmöglichen Lehrgang an einer Seefahrtschule anmelde, egal wo diese Schule sei.
Mein Vater hörte sich den Vorschlag an und erzählte Pastor Lochte davon. Er erklärte ihm, dass diese Ausbildung eineinhalb Jahre dauern würde – eineinhalb Jahre, in denen er keinen Pfennig verdienen würde, in denen meine Mutter wie immer nicht arbeiten dürfte, in denen wir aber auch keine staatliche Unterstützung bekommen würden; wir müssten also von der Hand in den Mund leben.
Lochte überlegte und telefonierte. Dann sagte er meinen Eltern: »Ich befürchte, dass es keine Alternative zu dem Angebot der Ausländerbehörde gibt.«
Er hatte eine Idee: Meine Eltern sollten den Vorschlag akzeptieren, allerdings von vornherein klarstellen, dass sie nicht nur eine Aufenthaltserlaubnis für die Zeit des Lehrgangs wollten – sondern die deutsche Staatsbürgerschaft.
Meine Eltern waren sprachlos.
Deutsche Staatsbürgerschaft? Wir waren nur geduldete Ausländer, mit Mühe und Not sollten wir eine befristete Aufenthaltserlaubnis bekommen, von einer Aufenthaltsberechtigung gar nicht zu reden, da lief noch der Prozess – und Pastor Lochte redete von einer Staatsbürgerschaft?
»Wir werden sehen«, sagte Lochte.
Mein Vater erkundigte sich bei den Seefahrtschulen. Der nächste Lehrgang begann im März 1985 in Cuxhaven, knapp zwei Stunden Autofahrt von Hollern entfernt.
»Meinen Sie, dass Sie es schaffen, dort Ihr Patent zu machen?«, fragte Pastor Lochte meinen Vater.
»Was bleibt mir anderes übrig?«
»Wir werden Ihnen helfen«, versprach der Pastor ihm. »Mit Gottes Hilfe schaffen wir das.«
Meine Eltern baten um einen Termin beim Vorgesetzten des Beamten mit dem Schnurrbart. Sie wollten ihn fragen, ob mein Vater nicht auch einen späteren Lehrgang machen könnte. Im Frühjahr 1986, also ein Jahr später, begann die Ausbildung in Grünendeich, und bis dahin könnte er ein bisschen Geld sparen, um damit unseren Lebensunterhalt während der Zeit des Kurses zu finanzieren. Auf eindringliches Bitten seiner Reederei hatte ihm die Ausländerbehörde gerade eine Arbeitserlaubnis erteilt, diesen Job wollte er ungern wieder aufgeben.
»Leider können wir Ihnen nur dann eine Aufenthaltserlaubnis erteilen, wenn Sie sich zum nächstmöglichen Lehrgang entschließen«, wurde meinem Vater beschieden. »Wir wollen Sie nicht zwingen, etwas zu tun, was Sie nicht wollen. Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen.«
Was für eine Entscheidung: ein Leben in Armut oder das Verlassen unserer Heimat. Was tun? Aufgeben? Nach all den Jahren? Nach all der Unterstützung von den vielen Freunden?
Das Geld würde nur noch für das Lebensnotwendige reichen, wir müssten extrem sparsam leben. Meine Mutter rief bei meiner Klavierlehrerin an. Sie wollte mich vom Unterricht abmelden. Doch Frau Cappeller wollte davon nichts wissen, sie akzeptierte die Abmeldung nicht. Stattdessen sagte sie, meine Eltern könnten die Stunden wieder bezahlen, wenn sie ein Einkommen hätten. Aber ich müsse unbedingt weiter unterrichtet werden – vorerst kostenfrei.
Die Ballettlehrerin meiner Schwester in Stade reagierte genauso.
Meine Eltern waren für solche Unterstützung dankbar. Sollte mein Vater sich entscheiden, die Seefahrtschule in Cuxhaven zu besuchen, könnten wir Kinder trotz dieser finanziellen Extremsituation unter möglichst normalen Umständen leben.
Pastor Lochte fuhr mit meinen Eltern zum Büro der Kommunalverwaltung in Grünendeich. Er wollte die Gemeinde um einen Kredit für meine Eltern bitten, ihre Ersparnisse reichten kaum für die gesamte Zeit. Eine Sachbearbeiterin und der Samtgemeindedirektor Hans Lorenzen empfingen sie. Lorenzen lebte selbst in Hollern-Twielenfleth und begegnete uns seit Jahren mit Wohlwollen.
»Wir brauchen Geld für Familie Kazim«, sagte Lochte. »Einen Kredit von, sagen wir mal: fünftausend Mark. Möglichst zinslos.«
Die Sachbearbeiterin begann, hektisch in ihren Akten zu wühlen.
»Das Problem ist, das wir keine Möglichkeit haben, der Familie Geld zu geben«, antwortete sie, während sie weiter auf ihre Papiere guckte. »Stellen Sie sich vor, das kommt an die Öffentlichkeit, dann will jede ausländische Familie
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