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Grünmantel

Grünmantel

Titel: Grünmantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles de Lint
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entlang nach Hopetown hinauf und über den Clyde River, wo er eine Schleife drehte und bei Middleville den Highway 16 kreuzte, weiter durch das Marschland zwischen Gillies und den Ramsbottoms Lakes, wo er wieder den Clyde River überquerte und durch Lanark Village tobte, ehe er den Snake Lake Mountain hinaufbrauste.
    Wo er auf Schläfer traf, waren deren Träume plötzlich mit Schwingungen erfüllt, die sie nie zuvor erfahren hatten, während die Menschen, die wach waren, für den einen Moment, in dem der Hirsch an ihnen vorüberjagte, in ihren Gesprächen innehielten und sie dann wieder fortführten, sehr wohl wissend, daß sie nicht mehr dieselben Menschen waren - wenngleich sie den Grund dafür nicht wußten. Den Hirsch kümmerten nicht die Schläfer und nicht die Wachenden, denn er folgte nur seinem eigenen Drang durch die Nacht und jagte hinter dem Mond her. Es gab nur wenige, die in der Nacht seine Gegenwart nicht fühlten, aber noch weniger, die einen Blick auf ihn erhaschten - vielleicht seine Geweihenden sahen, die sich für einen Sekundenbruchteil gegen den Himmel abhoben, oder den weißen Fleck auf seinem Schwanz. Nichts sonst.
    Erst als der Hirsch wieder auf den Wold Hill einschwenkte, hörte er das Jaulen der Meute, das durch die Nachtluft drang. Die Verfolger waren noch weit entfernt, schwarze Schemen, schattengleich, die seiner Spur auf stillen Pfaden folgten. Und wenn sie manchmal aussahen wie Mönche, die ihre Gesichter in den Kapuzen ihrer Kutten verbargen, wie Menschen, die ihm aufrecht laufend nachsetzten, schien auch der Hirsch manchmal die Gestalt eines Menschen anzunehmen, der auf zweigeteilten Hufen lief. Das Geweih schien dann zur Größe von Geißbock-Hörnern zu schrumpfen, und die schmutzigbraune Haut schimmerte schweißnaß im Licht der Sterne.

    Zwei Gestalten erhoben sich aus dem Schatten des graublauen Steins auf dem Wold Hill und blickten nach Süden.
    »Er kommt gleich zurück«, sagte Mally.
    Lewis nickte. »Die Hunde sind ihm dicht auf den Fersen.«
    »Sie werden ihn nicht kriegen - nicht dieses Mal.«
    »Werden sie ihn je kriegen?« Lewis machte eine Frage aus den Worten, die ebensogut eine Feststellung sein konnten.
    »Nicht, wenn ihr es nicht zulaßt.«
    »Ich habe mit Tommy geredet. Er hört nicht auf mich, wie ich dir schon sagte.«
    Mally nickte. »Du gehst jetzt besser, Lewis. Wir sehen uns später.«
    Er sah sie an, versuchte den Ausdruck auf ihrem Fuchsgesicht zu deuten, doch die breite Hutkrempe machte die nächtlichen Schatten auf ihrem Gesicht noch unergründlicher.
    »Wir sehen uns«, meinte er zögernd, eilte aber darin, so schnell es sein alter Körper zuließ, von der Lichtung zu seiner Hütte hinunter.
    Mally sah ihm nach und wandte schließlich den Blick zum südlichen Ende der Lichtung. Ein Mann kam aus dem Wald gelaufen - halb Mensch, halb Ziege, dann mehr Hirsch als Ziege, dann nur noch Hirsch. Mally spitzte die Lippen und pfiff leise.
    »Komm her«, sagte sie.
    Der Hirsch blieb für einen Moment still stehen, ehe er durch das Gras zu ihr trottete. Sie legte ihre Hand auf seine Flanke und tätschelte ihm das nasse Fell, wobei sie ständig vor sich hinmurmelte.
    »Es ist nicht der Glaube, der dich hier festhält«, sagte sie, »auch nicht Unglaube - ganz gleich, was alle ihre Scholaren sagen. Es ist die Vernunft - alle diese geraden Linien, mit denen sie das Land und ihre Gehirne eingeteilt haben ...«
    Der Hirsch beschnupperte ihre Schulter. »Du gehst jetzt besser - sie sind nahe. Zu nahe.«
    Sie gab ihm einen Klaps auf die Hinterhand, und der Hirsch tat einen Satz auf den Stein zu. Dort waren die Schatten undurchdringlich. War er in den Stein gesprungen, oder hatte er im letzten Moment die Richtung geändert? Als die Verfolger auf die Lichtung stürmten, war der Hirsch spurlos verschwunden. Mally trat mit verschränkten Armen zu den hundeförmigen Schemen.
    »Wieder zu spät«, sagte sie leise.
    Der führende Schatten trat vor. Mally lüftete den Hut und griff hinein. Als sie die Hand wieder hervorzog, war sie gefüllt mit Licht. Es waren zierliche Lichtstäbchen in der Größe von kleinen Knochen oder Zweigen, die Mally in den Fingern hielt. Der führende Schatten verharrte. Die anderen spritzten auseinander, als Mally die Lichtstäbchen in hohem Bogen auf sie schleuderte. Die Schemen, die vom Licht getroffen wurden, zischten laut, als sie brannten. Doch die meisten Stäbchen verpaßten ihre Ziele, die in wilder Flucht davonstoben. Innerhalb von wenigen

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