Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
und auf den Besuch des Sohnes wartet;
es ist ein Vater, der, inzwischen mit einem Regierungsflugzeug ausgestattet (Leni genießt das Fliegen ungeheuer!), sich als
nicht nur viel-, auch als über- und mit überaus wichtigen Dingen beschäftigter Mann von Fall zu Fall mühsam freimachen, der
wichtige Termine absagen, der Verabredungen mit Ministern (!) unter oft fadenscheinigen Vorwänden (Zahnarzt etc.) absagen
muß, um die Zusammenkünfte mit seinem geliebten Sohn nicht zu versäumen – und der dann aus diesem Reibert, neubearbeitet von
einem gewissen Dr. Allmendinger, Grußvorschriften vorgelesen bekommt, von einem geliebten Sohn, den er am liebsten als Direktor
des Kunstgeschichtlichen, notfalls Archäologischen Instituts in Rom oder Florenz sehen würde?
|90| Bedarf es da noch eines Kommentars, daß diese »Kaffeestündchen«, diese Frühstücke und Mittagessen »für alle Beteiligten nicht
etwa nur ungemütlich, daß sie immer quälender, nervenaufreibender, schließlich entsetzlich wurden« (Lotte Hoyser). Die damals
sechsundzwanzigjährige Lotte Hoyser geb. Berntgen, Schwiegertochter des viel zitierten Prokuristen und Oberbuchhalters Otto
Hoyser, war als Sekretärin in Gruytens Diensten, der auch ihren Mann Wilhelm Hoyser vorübergehend als Zeichner beschäftigte.
Da Lotte schon in den entscheidenden Monaten des Jahres 1939 bei Gruyten beschäftigt war und hin und wieder auch an den »Kaffeestündchen«
mit dem auf Urlaub weilenden Sohn teilnahm, kann hier vielleicht ihr Urteil über Gruyten selbst, den sie als »einfach faszinierend,
aber damals letzten Endes doch kriminell« bezeichnete, nur am Rande erwähnt werden. Der alte Hoyser kokettiert gern mit einer
»erotischen, aber natürlich platonischen Beziehung« seiner Schwiegertochter zu Gruyten, »in dessen erotischen Einzugsbereich
sie bei einem Altersunterschied von nicht ganz vierzehn Jahren durchaus gehörte«. Es sind sogar Theorien laut geworden (merkwürdigerweise
von Leni, die aber nicht direkt, nur indirekt durch den unzuverlässigen Heinrich Pfeiffer verbürgt sind), daß Lotte »für Vater
wahrscheinlich damals schon eine regelrechte Verführung, womit ich nicht meine Verführerin , darstellte«. Lotte jedenfalls beschreibt die Familienkaffees, zu denen der alte Gruyten manchmal aus Berlin oder München
herbeiflog, sogar aus Warschau, wie behauptet wird, »als einfach entsetzlich«, »schlechthin unerträglich«. M. v. D. bezeichnete
sie, die Mahlzeiten, als »furchtbar, einfach furchtbar«, während Leni sich auf den Kommentar »schlimm, schlimm, schlimm« beschränkt.
Erwiesen ist, sogar durch eine so voreingenommene Zeugin wie M. v. D., daß diese Urlaube Frau Gruyten »einfach |91| ruinierten; sie war dem, was da vor sich ging, nicht gewachsen«. Lotte Hoyser spricht eindeutig von einer »intellektuellen
Variation des Vatermords« und behauptet, die politische, zerstörerische Absicht der Zitate aus dem genannten Reibert hätte
Gruyten »gerade deshalb getroffen, weil er mitten in der Politik stand, sogar politische Geheimnisse hohen Ranges erfuhr und
erfahren hatte: etwa den Bau von Kasernen im Rheinland lange vor dessen Besetzung – und den geplanten Bau riesiger Luftschutzbunker
–, und gerade deswegen wollte er zu Hause von Politik nichts hören«.
Leni erlebte dieses bittere dreiviertel Jahr nicht ganz so massiv, möglicherweise nicht ganz so aufmerksam wie andere Beobachter,
sie hat inzwischen – ungefähr im Juli 1939 – einen Mann erhört, nein, sie hätte ihn erhört, wenn er um Erhörung gebeten hätte;
sie wußte zwar nicht, ob er nun wirklich der Richtige war, der, den sie sehnlichst erwartete, wußte aber auch, daß sie es
erst wissen würde, wenn er um Erhörung gebeten haben würde. Es war ihr Vetter Erhard Schweigert, Sohn des Langemarck-Opfers
und jener Dame, die von ihm behauptet, er habe ausgesehen, als wäre er bei Langemarck gefallen. Erhard, der »auf Grund einer
extrem sensiblen nervlichen Disposition« (seine Mutter) an einer so rauhen Bildungseskaladierwand wie der Abiturprüfung gescheitert
war, sogar vorübergehend von einer so unerbittlichen Institution wie dem Reichsarbeitsdienst heimgeschickt worden war und
den ihm »widerwärtigen« (Selbstzitat nach M. v. D.) Beruf eines Volksschullehrers anstrebte, indem er sich zunächst privat
den Vorbereitungen für eine Begabtenprüfung unterwarf, war dann unverhofft dennoch in jene rauhe Institution
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