Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
kleinen Jungen
als Lev Borrisovič Gruyten – na, da haben dann wohl alle Bekannten und Verwandten auf sie eingeredet, daß das nicht ging,
und sie hats gelassen, aber sie hatte dann noch mehr Dreck am Stecken als während des Krieges. Noch Jahre später hat man sie
›die blonde Sowjet-Hure‹ genannt – das arme |200| liebe Ding. Nein, leicht hat sie’s nie gehabt, bis heute nicht.«
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Spätestens hier muß nun, um unangebrachte Spekulationen zu vermeiden, falsche Hoffnungen früh genug zu zerstören, der männliche
Haupthandlungsträger der ersten Abteilung vorgestellt werden. Manche – nicht nur Frau Ilse Kremer –, und bisher fast alle
ohne Ergebnis, haben sich schon Gedanken darüber gemacht, wieso dieser Mensch, ein Sowjetmensch mit dem Namen Boris Lvović
Koltowski, in die günstige Lage kam, im Jahr 1943 in einer deutschen Kranzbinderei arbeiten zu dürfen. Da Leni nicht einmal,
wenn es um Boris geht, sehr gesprächig wird, aber hin und wieder relativ mitteilsam, war sie – nach dreijährigem Drängen durch
Lotte, Margret und Marja gemeinsam – bereit, zwei Personen zu nennen, die über Boris Lvović Auskunft geben könnten. Die erste
Person hat Boris nur flüchtig gekannt, aber intensiv in sein Schicksal eingegriffen. Sie hat ihn zum Günstling des Schicksals
gemacht, indem sie mit Macht und Konsequenz, notfalls sogar zu Opfern bereit, in sein Schicksal eingriff. Es ist eine enorm
hochgestellte Persönlichkeit mit industriellem Hintergrund, die keinesfalls, aber auch um keinen Preis genannt werden möchte.
Der Verf. kann sich nicht die geringste Indiskretion erlauben, sie würde ihn einfach zu teuer zu stehen kommen, und da er
sie – die Diskretion – außerdem noch Leni fest zugesagt hat, mündlich natürlich, möchte er Gentleman bleiben und seine Zusage
halten. Leider ist diese Persönlichkeit erst spät, zu spät, auf Lenis Spur gekommen, erst im Jahre 1952, weil er in diesem
Jahr erst erfuhr, daß Boris ein |201| doppelter Günstling des Schicksals war: nicht nur in Pelzers Kranzbinderei durfte er arbeiten, er war es auch, auf den Leni
gewartet zu haben schien. Boris ist fast jedem möglichen Verdacht ausgesetzt gewesen: er soll ein von den Deutschen eingeschleuster
Spitzel gewesen sein, auf Pelzer und seine gemischte Belegschaft angesetzt, außerdem soll er natürlich ein sowjetischer Spitzel
gewesen sein. Angesetzt worauf: auf die Geheimnisse deutscher Kranzbinderei im Kriege oder um über die gemischte Moral deutscher
Arbeiter zu berichten? Zutreffend ist, daß er lediglich ein Günstling des Schicksals war. Weiter – nichts. Er war, als er
Ende 1943 die Szene betrat, wahrscheinlich – wir sind hier auf Schätzungen angewiesen – zwischen 1,76 und 1,78 m groß, mager,
blond, wog mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit höchstens 54 Kilogramm, war Träger einer Nickelbrille der Roten
Armee. Er war, als er in Lenis Leben trat, 23 Jahre alt, sprach Deutsch fließend, aber mit baltischem Akzent, Russisch wie
ein Russe. Er hatte Deutschland 1941 noch friedlich betreten und kehrte eineinhalb Jahre später als sowjetischer Kriegsgefangener
in dieses merkwürdige (manchen geheimnisvolle und unheimliche) Land zurück. Er war der Sohn eines zum Angestellten der sowjetischen
Handelsmission in Berlin avancierten russischen Arbeiters, hatte einige Gedichte von Trakl im Kopf, sogar einige von Hölderlin,
deutsch versteht sich, und war als diplomierter Straßenbauingenieur Pionierleutnant gewesen. Es müssen hier noch verschiedene
Gunstvorschüsse geklärt werden, an denen der Verf. unschuldig ist. Wer hat schon einen Diplomaten zum Vater und eine hochgestellte
Persönlichkeit aus der Rüstungsindustrie als Gunsterweiser? Und wieso ist kein Deutscher Haupthandlungsträger? Nicht Erhard,
nicht Heinrich, nicht Alois, nicht der alte G., nicht der alte H., nicht der junge H., nicht einmal der bemerkenswerte Pelzer
und nicht |202| der äußerst liebenswürdige Scholsdorff, der bis an sein Lebensende unglücklich darüber sein wird, daß ein Mensch ins Gefängnis
mußte, sogar in Lebensgefahr geriet, nur weil er, Scholsdorff, ein so fanatischer Slawist war und es nicht ertragen konnte,
einen fiktiven Lermontov in Dänemark beim fiktiven Bunkerbau beschäftigt auf einer Liste zu lassen? Muß – so fragt sich Scholsdorff
– ein Mensch, auch nur einer und dazu ein so sympathischer wie der alte G., deshalb fast dran glauben, weil ein
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