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Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)

Titel: Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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fiktiver Raskolnikov
     fiktive Zementsäcke schleppt und in einer fiktiven Kantine fiktive Graupensuppe schlürft?
    Nun: Leni ist schuld. Sie hat es so gewollt, daß hier kein deutscher Held der Held ist. Diese Tatsache muß – wie so vieles
     von Leni – einfach hingenommen werden. Im übrigen war dieser Boris ein ganz ordentlicher Mensch, sogar mit angemessener Bildung,
     sogar Schulbildung. Er war immerhin diplomierter Straßenbauingenieur, und wenn er auch kein Wort Latein gelernt hatte, kannte
     er doch zwei lateinische Worte sehr gut: »De profundis«, da er seinen Trakl so gut kannte. Wenn auch seine Schulbildung nicht
     im entferntesten mit etwas so Kostbarem wie dem Abitur verglichen werden kann, so kann doch objektiverweise gesagt werden,
     daß sie fast eine Art Abitur hätte sein können. Nimmt man die verbürgte Tatsache hin, daß er als junger Mensch sogar Hegel auf deutsch
     gelesen hatte (er war nicht von Hegel auf Hölderlin, von Hölderlin auf Hegel gekommen), so werden auch bildungsanspruchsvolle
     Leser vielleicht geneigt sein zuzugeben, daß er nicht allzuweit unter Leni stand, jedenfalls als Liebhaber ihrer würdig und
     – wie sich herausstellen wird – ihrer wert.
     
    Bis zum letzten Augenblick war er selbst völlig verwirrt über die ihm zuteil gewordene Gunst, wie wir aus den Aussagen seines
     früheren Lagergenossen Pjotr Petrovič |203| Bogakov glaubwürdig erfahren haben. Bogakov, jetzt sechsundsechzig, von Arthritis heimgesucht, mit so stark gekrümmten Fingern,
     daß er meistens gefüttert werden, daß ihm sogar seine gelegentliche Zigarette gehalten und zum Munde geführt werden muß, hat
     es vorgezogen, nach dem Krieg nicht in die Sowjetunion zurückzukehren. Er gesteht offen, daß er »sicher tausendmal bereut
     hat und sicher tausendmal die Reue bereut hat«. Immer wieder auftauchende Meldungen über das Schicksal heimgekehrter ehemaliger
     Kriegsgefangener machten ihn mißtrauisch, er verdingte sich als Wachmann bei den Amerikanern, wurde ein Opfer des McCarthyismus,
     fand bei den Engländern Unterschlupf, wo er in einer blau gefärbten englischen Armeeuniform wiederum als Wachmann Dienst tat.
     Er ist, obwohl er mehrmals um die deutsche Staatsangehörigkeit ersucht hat, staatenlos geblieben. Sein Zimmer in einem Heim
     mit kirchlich karitativem Hintergrund teilt er mit einem riesengroßen ukrainischen Volksschullehrer namens Belenko, der, bärtig
     und schnurrbärtig, nach dem Tod seiner Frau in eine hin und wieder von Schluchzen unterbrochene Dauer-Trauer verfallen ist,
     seine Zeit zwischen Kirche und Friedhof verbringt und auf der ständigen Suche nach einem Nahrungsmittel, das er seit seinem
     Aufenthalt in Deutschland, also seit sechsundzwanzig Jahren, endlich als »billige volkstümliche Nahrung, nicht als Delikatesse«
     finden möchte: Salzgurken. Bogakovs zweiter Zimmergenosse ist ein gewisser Kitkin, Leningrader, hinfällig und nach eigener
     Aussage »heimwehkrank«: ein magerer, schweigsamer Mensch, »der«, wiederum nach eigener Aussage, »das Heimweh einfach nicht
     lassen kann«. Hin und wieder flammen unter den drei alten Männern alte Streitigkeiten auf, sagt Belenko zu Bogakov, »Du Gottloser,
     du«, jener zu diesem »Faschist«, sagt Kitkin zu beiden »Schwätzer«, wird selbst von Belenko »Altliberaler«, |204| von Bogakov »Reaktionär« genannt. Da Belenko erst seit dem Tod seiner Frau, seit sechs Monaten, das Zimmer mit den beiden
     teilt, gilt er als »Neuer«. Bogakov war nicht bereit, in Gegenwart der beiden Zimmergenossen über Boris und seine Lagerzeit
     zu sprechen, es mußte ein Zeitpunkt abgewartet werden, an dem Belenko auf dem Friedhof, in der Kirche oder »auf Gurkensuche«
     und Kitkin spazieren- und natürlich »um Zigaretten« ging. Bogakov spricht Deutsch fließend und bis auf eine strittige und
     häufige Verwendung des Wortes »bekömmlich« unmißverständlich. Da seine Hände durch »dieses verfluchte jahrzehntelange Herumstehen
     in der Nacht, und bei jeglicher Kälte, und nachher sogar mit einer Flinte über der Schulter« wirklich sehr verkrümmt sind,
     verbrachten der Verf. und B. erst einige Zeit damit, über eine Verbesserung von B.s Rauchmöglichkeiten zu spekulieren. »Daß
     ich beim Anstecken abhängig bin, mag ja noch bekömmlich sein, aber bei jedem Zug, nein – und ich rauch ja nun mal gern meine
     fünf, sechs, und wenn ich sie habe, auch zehn am Tage.« Schließlich kam der Verf. (der sich hier ausnahmsweise in

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