Grusel auf Campbell Castle
Adriano Falcone, Der Schrei, 1723.
»Wir sollen auf den Schrei des Falken achten«, sagte Peter.
Justus richtete sich auf. »Nein, das war nicht der Wortlaut. Mr Campbell soll dem Schrei des Falken folgen , das stand drin.«
»Richtig.« Campbell nickte.
Der Erste Detektiv betrachtete noch einmal das Bild und blickte dann in eine bestimmte Richtung.
Peter folgte seinem Blick, wusste aber nicht, was Justus’ Aufmerksamkeit erregt hatte. »Erster?«
Justus bewegte sich von dem Bild weg und hielt auf die hintere Wand des Saals zu. Die anderen kamen ihm neugierig hinterher. »Man könnte diese Formulierung auch so interpretieren«, sagte er nachdenklich, »dass uns vielleicht weniger das Gemälde Falcones an sich zu interessieren hat, sondern dass wir der Richtung des Schreis folgen müssen. Und wenn wir das tun, dann führt uns das Bild geradewegs zu diesem Werk.« Der Erste Detektiv zeigte auf ein kolossales Gemälde, das einen großen Teil der hinteren Wand einnahm. Auf den ersten Blick war es fast unmöglich zu sagen, was es darstellte, so viele Gestalten und Szenen tummelten sich darauf. Aber Justus interessierte nur eine bestimmte Stelle. »Wobei wir uns eigentlich nur um diese kleine Gruppe da oben kümmern müssen«, fuhr er fort. Sein Finger umschrieb vier Gestalten, die hoch über dem Geschehen thronten. Zwei Frauen und zwei Männer. »Dahin nämlich geht der Schrei.« Der Erste Detektiv drehte sich um und zeichnete mit dem Finger eine imaginäre Linie nach, die den Mund des Schreienden auf dem Bild von Falcone mit den vier Gestalten verband.
Peter blinzelte ratlos. »Wer sind die vier? Kennt die jemand?«
»Die vier Apostel vielleicht?«, riet Campbell.
»Nein.« Bob runzelte die Stirn. »Das sind Personifikationen der vier klassischen Tugenden der Antike, der sogenannten Kardinaltugenden. Mäßigung und Gerechtigkeit.« Bob zeigte auf die beiden Frauen. »Und die beiden Männer symbolisieren die Weisheit und der erste die Tapferkeit.«
»Bist du dir da sicher?« Peter sah seinen Freund fragend an.
»Ja, ziemlich. Ich habe erst kürzlich was darüber gelesen.«
Justus knetete seine Unterlippe. »Mäßigung, Gerechtigkeit, Weisheit und Tapferkeit. Hm. Das könnte uns weiterbringen.«
»Und inwiefern?« Peter dachte nach, hatte aber keine Idee, wo hier ein Zusammenhang mit ihrem Fall bestand.
Justus sah Campbell an. »Nach allem, was Sie uns über Ihren Vater erzählt haben, könnte das durchaus passen. Diese vier Tugenden hielt man in der Antike für die wichtigsten Eigenschaften eines vollkommenen Menschen. Wäre es nicht möglich, dass die Aufgabe, die Ihnen Ihr Vater gestellt hat, damit etwas zu tun hat? Zumal Sie auch Ihren Kunstverstand unter Beweis stellen mussten, um all das herauszufinden?«
Campbell antwortete nicht gleich. Er fixierte noch einmal eingehend das Bild und begann dann, langsam auf und ab zu gehen, grübelnd, voller Gedanken. Erst nach einer Weile blieb er wieder stehen.
»Du hast recht, es könnte ihm durchaus ähnlich sehen. Meine Zweifel, die ich schon einmal geäußert habe, bleiben zwar bestehen, aber grundsätzlich: ja, darauf legte mein Vater Wert. Diese Tugenden zeichneten für ihn einen wahren Menschen aus. Nur: Was genau wollte er von mir? Was soll ich jetzt tun?«
»Tapfer sein«, Bob deutete auf eine Gestalt nach der anderen, »gerecht, weise und maßvoll.«
»Toll«, meinte Peter. »Und wie ist man tapfer und so weiter? Und was hat das mit dem Schatz zu tun?«
Bob zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich auch nicht.«
Justus winkte beschwichtigend ab. »Mal angenommen, Sie müssen wirklich diese Tugenden an den Tag legen«, sagte er zu Campbell, »und mal angenommen, die Reihenfolge der Personifikationen muss eingehalten werden. Fällt Ihnen dann irgendetwas zu Tapferkeit ein? Wissen Sie, was Ihr Vater damit gemeint haben könnte.«
Campbell zog die Mundwinkel herab. »Tapferkeit … Wie kann man tapfer sein, Mut beweisen? Keine Ahnung.«
»Gibt es da vielleicht irgendetwas, wovor Sie immer Angst hatten?«, überlegte Peter. »Etwas, von dem Ihr Vater wusste? Und jetzt will er womöglich, dass Sie sich dieser Angst stellen?«
»Gute Idee, Zweiter«, pflichtete ihm Justus bei.
»Angst, Angst …« Campbell schloss die Augen. »Ich wüsste wirklich nicht, wovor ich Angst hätte. Natürlich fürchte ich mich wie jeder vor Krankheit und Tod, aber Angst. Da gibt es n–« Urplötzlich brach er ab und riss die Augen auf. »Der Brunnen!«, stieß er aus.
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