Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
ob ich den Antrag auf Telefonüberwachung mit der Begründung stellen wollte, dass Maresciallo Navarra an der Ehrlichkeit der beteiligten Personen zweifelte. Er fragte mich, ob ich ahnte, was wohl der zuständige Richter sagen würde. Ich meinte, ja, das könne ich ahnen, und damit war die Sache beendet. Ich will damit sagen, dass ich den Antrag nicht einmal gestellt habe. Natürlich nicht.«
In diesem Moment kam der Junge von der Bar mit unseren Cappuccinos herein. Navarra trank seinen, indem er die Tasse mit beiden Händen hielt wie ein Kind. Danach hatte er noch etwas Schaum an der Oberlippe kleben. Er säuberte sich sorgfältig mit ein paar Papierservietten wie einer, der weiß, was beim Cappuccinotrinken passiert und entsprechende Maßnahmen ergreift. Gelassen und bewusst.
Diese einfache, präzise Sequenz von Gesten gefiel mir. Es war zwar nur darum gegangen, ein wenig Milchschaum von der Lippe zu wischen, aber ich dachte, dass ich auch gern jemand wäre, der so akkurate, bewusste und exakte Gesten vollführt.
Navarra knüllte die Servietten zusammen und wandte sich dann wieder mir zu.
»Also, wir haben alles getan, was wir konnten, wir sind überlastet, und auf unseren Schreibtischen stauen sich neue Akten, denen wir uns widmen müssen. Noch dazu gibt es in diesem Fall genau genommen nicht einmal den Verdacht auf eine Straftat. Ich meine, dass das Mädchen …«
»Sicher. Das Mädchen ist volljährig, es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass ihr Verschwinden mit einem Verbrechen zusammenhängt, man kann nicht ausschließen, dass sie vorsätzlich verschwunden ist, und so weiter …«
»… und so weiter. Es ist unwahrscheinlich, aber es könnte tatsächlich sein, dass sie absichtlich verschwunden ist und nicht gefunden werden will.«
Ich sah ihm in die Augen. Er erwiderte den Blick und zog die Schultern hoch.
»Na gut, ich glaube es auch nicht. Aber es gab anderes zu tun. Es sei denn, wie gesagt, ich hätte mich ausschließlich um diesen Fall kümmern können. Da dem nicht so war, musste ich mich anderen Fällen zuwenden. Aber vielleicht finden Sie ja etwas, was mir entgangen ist.«
Das sagte er ohne einen Hauch von Ironie. Trotzdem war die Vorstellung in unser beider Augen höchst unwahrscheinlich.
»Was haben Sie vor?«, fragte er, während er seinen Stuhl zurückschob.
»Sie wissen besser als ich, dass dies kaum ein ernst zu nehmender Versuch ist. Wenn die Polizei nichts gefunden hat, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass es mir gelingt.«
»Seien Sie da nicht so sicher. Ermittlungen folgen seltsamen Mechanismen. Manchmal tut man das Richtige, macht alles perfekt und findet gar nichts. Und dann, wenn man sich schon damit abgefunden hat, passiert irgendein Zufall, der einem die Lösung auf dem Silbertablett serviert. Speziell auf diesem Gebiet wiegen Technik oder Planung oder Erfahrung alle nicht so viel wie eine tüchtige Portion Schwein. Vielleicht haben Sie die ja.«
Ich zog die Schultern hoch und schüttelte den Kopf, aber was er sagte, gefiel mir. Er hatte mir Mut gemacht. Ich war ein blutiger Anfänger, was Ermittlungen anging, aber mit Schwein hatte ich eher gute Erfahrungen gemacht.
»Ich denke, ich werde versuchen, mit Manuelas Freundinnen zu sprechen, den beiden, die in Rom studieren. Und mit dem Typen, der Ihnen so sympathisch ist, dem Ex-Freund. Ich weiß nicht, ob es sich lohnt, auch das Mädchen, das sie zum Zug gebracht hat, noch einmal zu hören.«
»Anita Salvemini. Reden Sie ruhig noch einmal mit ihr.«
»Warum?«
»Wahrscheinlich führt es zu nichts. Aber manchmal, sehr selten, kommt es vor, dass jemand, wenn man ihn in einem anderen Zusammenhang und zu einem anderen Zeitpunkt befragt, sich an Einzelheiten erinnert, die er vorher vergessen hatte. Manchmal kommen neue Erinnerungsfragmente ins Licht, und womöglich ist es gerade dieses Detail, das einem hilft, das Knäuel zu entwirren. Es kommt selten vor, aber es kostet Sie ja nichts, mit dem Mädchen zu sprechen.«
»Haben Sie noch mehr Ratschläge für mich?«
»Die Handbücher raten immer, Gespräche mit Informanten in zwei Phasen zu unterteilen. In der ersten lässt man ihn am besten frei sprechen, ohne ihn zu unterbrechen, außer um ihm zu zeigen, dass man ihm zuhört. Anschließend kommen die speziellen Fragen, um Dinge zu klären und zu vertiefen. Am Schluss muss man immer eine Tür offen lassen. Man muss dem Zeugen sagen, dass er sich sicherlich in den folgenden Stunden oder Tagen an weitere Details erinnern wird.
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