Guillou, Jan - Coq Rouge 05 - Der ehrenwerte Mörder
alles, aber buchstäblich auch alles in ihrer Vergangenheit hervorkramen, sämtliche Kommandos, die ganze Karriere, Freunde und Bekannte, alle Leute, die sie gekannt haben. Dann suchen wir Parallelen in allen Spionage und Terroristengeschichten und ähnlichem, was sich in dem gleichen Zeitraum finden läßt. Dort irgendwo muß die Erklärung liegen. Oder?«
»Richtig. Du würdest es wahrscheinlich schaffen, bei der Polizeischule angenommen zu werden. Aber warum tun unsere Polizeikollegen nicht das gleiche, es wäre doch ihre Pflicht.«
»Weil die Säpo jedem einzelnen Zeugen Angst und Schrecken einjagt. Stell dir vor, du würdest selbst mit einem Hakenkreuz in Expressen landen, wenn du mit den Bullen redest.«
»Wissen die Bullen davon, daß ihr euch mit dieser Sache beschäftigt?«
»Ja. Sie haben uns sogar darum gebeten, also die richtigen Bullen. Ja, du weißt doch, dieser Rune Jansson in Norrköping, seit dieser Geschichte damals…«
»Ja, ich weiß. Als du in der Gegend herumgelaufen bist und Leute erschossen hast und sogar noch die Zeit gefunden hast, das Blut an den Händen abzuwaschen und wie verabredet gerade rechtzeitig zu mir nach Hause zu kommen. Nette Geschichte. Aber dieser Rune Jansson ist in Ordnung. Er ist inzwischen Chef der Kripo in Norrköping. Wenn er euch um Hilfe gebeten hat, ist es sicher in Ordnung. Wenn du einen Tip brauchst, sag nur Bescheid.«
Sie lächelte etwas spöttisch, als sie dies sagte.
»Mhm«, sagte er, »ich komme darauf zurück. Jedenfalls werden uns in den nächsten Monaten hier im Haus die polizeilichen Gesprächsthemen nicht ausgehen. Wie ist es dir heute ergangen? Ich hoffe, man hat dich nicht schon wieder vollgekotzt.«
»Nee, aber weißt du, was dieser Scheißkerl getan hat?«
»Hat er versucht zurückzuschlagen, als man ihn heute morgen freiließ?«
»Nein. Er hat mich wegen Körperverletzung angezeigt. Hat sich ein ärztliches Attest für die Nase geholt, und das Attest sieht verdammt seriös aus. Da ist von ›schweren Schmerzen‹ die Rede, und der Patient habe tiefe Furcht empfunden und dies und das.«
Carl runzelte die Stirn und stand auf, um eine neue Platte aufzulegen. Er kramte eine Weile, bevor er sich für eins der Brandenburgischen Konzerte entschied.
»Ist das nicht recht ernst?« fragte er besorgt. »Ob Saufkopf oder nicht, es ist doch verboten, sie zu vermöbeln, selbst wenn sie einen vollkotzen?«
»Ja. Ich muß morgen zum Verhör, und das müssen auch die Jungs, die ihn gebracht haben.«
»Was passiert dann?«
»Die Jungs werden natürlich sagen, sie seien so beschäftigt gewesen, daß sie nichts gesehen hätten.«
»Aber was sagst du?«
»Ja, genau das ist die Frage. Wenn ich gestehe, bin ich dran. Es kann leichte Körperverletzung sein, und dann kriege ich eine Geldstrafe und nichts weiter. Es kann aber auch schwere Körperverletzung werden, und dann riskiere ich Gefängnis und Entlassung.«
Carl verstummte. Er sah sie lange an, ohne etwas zu sagen.
»Das ist eine Frage der Ehrlichkeit«, sagte sie leise, als ihr aufging, daß er nicht die Initiative ergreifen würde. »Soll ein Polizist lügen?«
»Deine Kollegen werden es ja tun. Die haben nämlich nichts gesehen, obwohl ihnen deine Vorführung sicher viel Spaß gemacht hat.«
»Ja, aber das ist etwas anderes. Die lügen oder halten zumindest die Wahrheit zurück, um eine Kollegin zu schützen. Das würde ich wohl auch tun. Aber jetzt ist es die Kollegin selbst, die Stellung nehmen muß. Wenn ich es zugebe, bin ich dran.«
»Dann lüg doch, das dürfte am einfachsten sein«, sagte Carl matt.
»Findest du wirklich?«
»Ja, absolut. Es besteht kein angemessenes Verhältnis zwischen deiner höchst spontanen und begreiflichen Reaktion und den Konsequenzen, die ein Geständnis mit sich bringen würde.«
»Nein, das stimmt. Aber darum geht es nicht.«
»Sondern worum?«
»Daß ein Polizist nicht lügen soll. Ich soll nicht lügen, weder dich anlügen noch sonst jemanden. Ein guter Offizier soll doch wohl auch nicht lügen.«
»Doch, das gehört zu meinen beruflichen Pflichten.«
»Aber bei mir nicht?«
»Nein, natürlich nicht. Aber das läßt sich nicht vergleichen.«
»Na ja, ich bin ja nicht bei der Spionage oder so, ich bin nur eine ganz gewöhnliche und bislang ehrliche Polizeibeamtin. Ich möchte meinen Kindern in die Augen sehen können, wenn die Zeitungen die Polizei mit Schmutz bewerfen. Ich will immer sagen können, daß ihre Mami jedenfalls immer ein ehrlicher
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