Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Pistole, die eine solch heftige Detonation verursachte.
Und zumindest eine Person mit der Zielgenauigkeit und ruhigen Hand, die erforderlich waren, um bei Mondlicht eine Kugel in ein Handy zu jagen.
Als ihm einfiel, dass wahrscheinlich von draußen auf ihn geschossen worden war, duckte er sich instinktiv und spähte hinauf zum Fenster über dem Tisch – es war geschlossen und völlig unversehrt. Der Schuss musste also durch eins der hinteren Fenster gekommen sein. Er rekonstruierte im Geist seine Position im Moment des Aufpralls und fragte sich, wieso die Kugel das Telefon in seiner Hand getroffen hatte, ohne seine Schulter zu durchschlagen.
Wie war das Ganze zugegangen?
Mit Entsetzen wurde ihm die Antwort klar.
Der Schuss war nicht von draußen abgegeben worden.
Jemand war hier mit ihm im Zimmer.
Nicht seine Augen bestärkten ihn in dieser Einsicht, sondern seine Ohren.
Er hörte Atmen.
Nur wenige Schritte entfernt.
Langsames, entspanntes Atmen.
49
Ein äußerst rationaler Mensch
Als Gurney in die Richtung spähte, aus der das Geräusch kam, bemerkte er in dem silbrigen Lichtstreifen
auf dem Boden ein schwarzes Rechteck, wo vorher die Falltür gewesen war. Dahinter erkannte er im schwachen Mondschein die undeutliche Silhouette einer stehenden Gestalt.
Heiseres Flüstern bestätigte diesen Eindruck. »Setzen Sie sich an den Tisch, Detective. Legen Sie die Hände auf den Kopf.«
Stumm befolgte Gurney die Anweisungen.
»Ich habe einige Fragen. Sie müssen sie schnell beantworten. Verstanden?«
»Verstanden.«
»Wenn Sie nicht schnell antworten, gehe ich davon aus, dass Sie lügen. Verstanden?«
»Ja.«
»Gut. Erste Frage: Kommt Clinter hierher?«
»Das weiß ich nicht.«
»Gerade haben Sie ihn am Telefon aufgefordert, nicht zu kommen.«
»Das stimmt.«
»Erwarten Sie, dass er trotzdem auftaucht?«
»Es kann sein. Ich weiß es nicht. Er ist unberechenbar.«
»Das ist richtig. Sie müssen mir weiter die Wahrheit sagen. Nur die Wahrheit wird Sie am Leben erhalten. Verstanden?«
»Ja.« Gurney klang vollkommen ruhig wie so oft in extremen Situationen. Doch in seinem Inneren brodelten Angst und Wut. Angst vor der Falle, in der er saß, und Wut über die arrogante Fehleinschätzung, durch die er in diese fatale Situation hineingestolpert war.
Er hatte einfach unterstellt, dass sich der Gute Hirte an den zeitlichen Rahmen halten würde, den er in dem inszenierten Gespräch mit Kim abgesteckt hatte, und zwei oder drei Stunden vor dem angeblichen Mitternachtstreffen von Clinter und Gurney in der Hütte erscheinen würde. In dem Wirrwarr von Fakten, offenen Fragen und unerwarteten Wendungen, die in seinem Kopf herumschwirrten, hatte er die naheliegende Möglichkeit außer Acht gelassen, dass der Mörder vorzeitig dort auftauchen könnte – vielleicht sogar über zwölf Stunden früher.
Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Dass der Hirte ein logisch denkender Mann war und logischerweise wenige Stunden vor Mitternacht eintraf? Verdammt, wie blöd durfte man eigentlich sein? Er mahnte sich, dass er schließlich auch nur ein Mensch war und dass Menschen eben Fehler machten. Doch das half wenig gegen die bittere Einsicht, dass ihm diesmal ein vermutlich tödlicher Fehler unterlaufen war.
Das kehlige Flüstern wurde lauter. »Haben Sie darauf gehofft, mich hierherzulocken? Um mich dann irgendwie zu überrumpeln?«
Gurney fand die Treffsicherheit der Frage verstörend. »Ja.«
»Die Wahrheit. Gut. Sie hält Sie am Leben. Nun zu ihrem Telefonat mit Clinter. Glauben Sie, was Sie ihm erzählt haben?«
»Über die Morde?«
»Selbstverständlich über die Morde.«
»Ja, ich glaube es.«
Mehrere Sekunden lang hörte Gurney nur das Atmen des Unbekannten, bis schließlich eine gehauchte Frage folgte, die kaum lauter war. »Welche anderen Gedanken beschäftigen Sie?«
»Mein einziger Gedanke im Moment ist: Werden Sie mich erschießen?«
»Selbstverständlich. Aber je mehr Wahrheiten Sie mir erzählen, desto länger bleiben Sie am Leben. Ganz einfach. Verstanden?«
»Ja.«
»Gut. Dann erzählen Sie mir jetzt Ihre Theorie über die Morde. Was Sie wirklich denken.«
»Im Grunde handelt es sich hauptsächlich um Fragen.«
»Was für Fragen?«
Gurney überlegte, ob das heisere Flüstern auf eine Schädigung der Stimmbänder zurückzuführen war oder ob der Gute Hirte nur seine Stimme verstellte. Vermutlich Letzteres. Daraus konnte man interessante Schlüsse ziehen, aber jetzt musste er sich darauf
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