Guten Morgen, Tel Aviv
das Hörorgan besser als sonst, glaube ich. Anders kann ich mir die Geschehnisse nicht erklären. Wir tappten also im Dunkeln durch die Wüste, bis wir auf einer kleinen Erhebung Pause machten. Die Deutschen saßen uns im Rücken. Bewegungslos. Staunend. Mucksmäuschenstill. Mein Freund und ich packten unsere belegten Brote aus. Das war der Sinn der Rast. So dachten wir. Doch als wir nur ein wenig mit dem Aluminiumpapier raschelten, wurden wir von den Hintermännern im Chor angezischt: »Schiiiiischhhhhhhhh.« Das machen die Deutschen gerne. Das Wort sollte im Duden stehen.
Ein paar Sekunden später kam eine Gruppe Israelis auf Nachtwanderung vorbei. Sie grölten wie im Fußballstadion. Die Deutschen fielen fast vom Glauben ab. Traurig, wütend und enttäuscht sprangen sie von ihrem Sitzhügelchen auf und schüttelten »tz tz tz« ihre Köpfe im Takt. Mich sahen sie an wie einen Staatsfeind. Und irgendwie war ich es ja auch. Ich hatte sie verraten. Die deutsche Ruhe. Das deutsche Schisch.
Ruhe und Ernsthaftigkeit spielen eine große Rolle in der deutschen Kultur. In der deutschen Kirche zum Beispiel sitzen die Besucher eifrig ruhig und machen ernste Mienen. Mein Vater ist regelmäßig einer von ihnen. Weihnachten hockt er mit seinem Kirchengesicht (ruhig, ernsthaft, die Lippen leicht geschürzt) neben uns, während meine Mutter und ich kichernd heimliche, lebhafte Blicke austauschen.
In der Synagoge in Israel sucht man so eine Ruhe vergeblich. Hier schmettert der Rabbi heilige Lieder, und die Gemeinde krakeelt dazu Dinge, die so ähnlich klingen. Überall halten die Besucher Privatgespräche, und ich bin mir nicht sicher, dass es darin immer um Religion geht. In vielen Gemeinden wird außerdem mit der flachen Hand im Takt des Liedes auf das kleine Pult an den Sitzbänken geschlagen. Manchmal trampeln die Gläubigen auch auf, wie die Besucher eines Rockkonzerts.
Das war natürlich für meinen Papa mit dem Kirchengesicht ein Schock. Aber versuchen Sie das mal den Israelis zu erklären. Viele hier kennen die Deutschen nur aus dem Fernsehen. Sie brüllen dort in Schwarz-Weiß-Dokumentarfilmen und akkuraten Uniformen vor schreienden Massen herum. Der bekannteste Deutsche ist Adolf Hitler. Er ist hier weniger für seine ruhige Art bekannt. Deutsch ist für Israelis eine harte Sprache, die vor allem aus geschrienen Nazi-Wörtern wie »Jude«, »raus«, »schnell« oder »Achtung stillgestanden« besteht. Dass die brüllenden Deutschen zischen, macht für Israelis demnach nur aus einer herrischen, erhabenen Perspektive Sinn. Der Deutsche, der gebieterisch in der Wüste sitzt und zur Ruhe mahnt. Ein furchtbares Stereotyp, dem ich mit meiner offenen, aufgeschlossenen Art entgegenarbeiten möchte. Ich will nicht die typische Deutsche sein.
Doch am Ende kam es natürlich ganz anders. Gestern nämlich stand ich mit meinem wunderbaren Lebensbegleiter draußen vor der Tür. Als etwas aus dem ersten Stock fiel, schrie ich in kurzem Zeitabstand die Wörter »Achtung«, »schnell« und »raus« durch die Nachbarschaft. Natürlich muss man das im Kontext sehen, aber dafür war es dann schon zu spät. Innerhalb weniger Sekunden stürzten unsere Nachbarn an ihre Fenster und sahen mich erschrocken an. Von jetzt auf gleich wurde ich zur schwarz-weißen Bilderbuch-Deutschen. In mir sahen sie all ihre schlimmsten Vorurteile bestätigt. Nichts hatte sich geändert. Jahrelange Imagebemühungen der aufgeschlossenen Deutschen weltweit verpufften. Der gute Eindruck der weltoffenen, spielerisch-leichten deutschen Fußballnationalmannschaft, alles hin. Das habe ich wirklich nicht gewollt.
Die Sache mit der Mischpoke
Jeder Mensch, egal ob aus Deutschland, Dänemark oder Kenia, kennt das: Die eigene Familie kann einen manchmal verrückt machen. In Israel jedoch treibt sie einen in den Wahnsinn. Israelische Familien sind wie Sekten. Ich kann mit meinem wunderbaren Lebenspartner vier Stunden über, sagen wir, den Einkauf einer Mikrowelle beraten und beschließen. Drei Minuten am Telefon mit Vater/Bruder/Cousin/Tante/Neffe/Schwippschwager/Familienhund reichen, um alles vorher Gesagte nichtig zu machen. Denn wie eine gute Sekte macht die israelische Familie vor allem eins: Sie mischt sich immer ein. Gleichzeitig überschüttet sie einen mit Liebe und gutem Willen.
Deswegen war es auch nicht überraschend, dass uns beim Kauf einer Waschmaschine und eines Kühlschranks die ganze israelische Familie meines Freundes begleitete.
Natürlich nicht die
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