Gwydion 04 - Merlins Vermächtnis
er mit Roderick einige ernste Worte bezüglich seines Schoßtieres wechseln, das ihn entgegen aller Versicherungen bei der erstbesten Gelegenheit schmählich im Stich gelassen hatte. Mit einem Fluch auf den Lippen trat Gwyn den Rückweg an.
Schon bald musste er sein Schwert zu Hilfe nehmen, um Schneisen in das Gestrüpp zu schlagen, das jetzt immer undurchdringlicher wurde. Sein Atem ging schwer, und das nicht nur, weil ihm die Arbeit so schwerfiel. Panik stieg in ihm auf, als er feststellte, dass er sich verirrt hatte.
„Brutus, du verdammter Köter!“, schrie Gwyn voller Wut. Er zwang sich, langsamer zu atmen und seine Situation in aller Nüchternheit zu beurteilen. Gwyn war vom alten Wachturm aus nach Norden gegangen, so viel war sicher. Also musste er jetzt nur noch herausfinden, wo Süden war, um dann irgendwann auf die Thamesis zu stoßen.
Gwyn schaute hinauf zum dichten Blätterdach. Es musste jetzt Mittag sein. Um diese Zeit stand die Sonne nicht nur am höchsten, sie zeigte ganz bestimmt auch die Richtung an, in die er gehen musste. Nur zu dumm, dass sich der Himmel in der letzten halben Stunde bewölkt hatte. Auch schien es kühler zu werden. Hatte er vorher in der brütenden, feuchten Hitze geschwitzt, begann er auf einmal zu frieren.
Wie wild schlug Gwyn mit seinem Schwert auf die Büsche ein, um sich einen Weg zu bahnen. Schließlich trat er hinaus auf eine Lichtung.
Schwarze Vögel zogen kreischend ihre Bahnen unter einem bleischweren Himmel. Dichter Nebel waberte kniehoch über dem Boden und inmitten dieses Nebels stand ein Mann: alt, hager, aber nicht gebeugt.
„Merlin?“, fragte Gwyn ungläubig. „Merlin, seid Ihr das?“
Doch anstatt eine Antwort zu geben, drehte sich die Gestalt um und ging fort. Fast so, als würde er sich geradewegs in dem grauen Dunst auflösen.
Gwyn begann zu laufen. Da er jedoch den Boden unter seinen Füßen nicht sehen konnte, stolperte und stürzte er immer wieder.
„So wartet doch auf mich“, rief er. Die Luft hatte mittlerweile eine kalte Schärfe angenommen, die seine Lungen bei jedem Atemzug schmerzen ließ.
Gwyn taumelte hinter der sonderbaren Gestalt her, aber sosehr er sich auch anstrengte, er konnte sie nicht erreichen. Kaum glaubte Gwyn, den Mann endlich eingeholt zu haben, sah er nur, wie ein blauer Mantel hinter einem der Bäume verschwand.
Ihm wurde schwindelig, sein Blick verschwamm und das Blut rauschte ihm in den Ohren. Gwyn fühlte sich leicht und schwer zugleich.
„Merlin, bitte! Wartet auf mich!“, klagte er. „Ich habe mich verlaufen und finde nun den Weg nicht mehr zurück.“
Doch die Gestalt ging weiter, als hätte sie das Rufen nicht gehört. Gwyn war mit seinen Kräften am Ende. Seine Beine waren schwer wie Blei und er fror erbärmlich. Keuchend lehnte er sich an einen Baum, als er sah, wie der alte Mann einen kleinen Pfad betrat und dann erneut im Nebel verschwand. Gwyn hustete und wischte sich den Schweiß aus den Augen, der trotz der Kälte in Strömen von seiner Stirn rann. Wo zum Teufel kam auf einmal der Weg her? Gwyn war sich sicher, dass er vor wenigen Augenblicken noch nicht da war! Oder hatte ihm der Nebel, der nun immer dichter wurde, einen Streich gespielt? Schwerfällig setzte er einen Fuß vor den anderen und ließ sich von dem Dunst verschlingen.
Gwyns Herz pochte wie wild. Er riss die Augen weit auf, konnte aber nicht weiter als eine Armeslänge sehen, da ihn die Schwaden wie flüchtige Geister umschwebten. Dann hoben sich die Schleier und Gwyn betrat ein anderes Land.
Das Erste, was ihm auffiel, war das Fehlen von Farben. Alles war in ein trübes graues Licht getaucht, dessen Quelle Gwyn nicht zu benennen vermochte. Er stand mitten auf einer gepflasterten Straße. Sie führte zu einem weit entfernten Hügel, auf dessen Kuppe ein riesiger Apfelbaum stand. Auf beiden Seiten des Weges reihte sich Haus an Haus. Manche waren aus Stein, viele aus Holz und keines von ihnen wirkte ärmlich, obwohl alle in einem schlechten Zustand waren.
Da vernahm Gwyn plötzlich einen Glockenschlag. Er wusste nicht warum, aber er erwartete, dass mit diesem Klang ein Wind aufkommen müsste, der die trockenen Blätter, die am Wegesrand lagen, mit einem Rascheln aufwirbelte. Aber nichts dergleichen geschah.
Gwyn ging zu einer Behausung, die sich zu seiner Linken unter einen kahlen Baum duckte und an einen römischen Tempel in Miniaturform erinnerte. Seltsam: Entweder war Gwyn zu groß, oder die Welt um ihn herum war geschrumpft.
Weitere Kostenlose Bücher