Gwydion 04 - Merlins Vermächtnis
Vorsichtig spähte er durch das dunkle Fensterloch neben der Tür. Als er die mit staubigen Spinnweben behangenen Toten sah, die in der makaberen Inszenierung eines gemeinsamen Mahls an einem Tisch saßen, hätte er beinahe einen lauten Schrei ausgestoßen. Das Brot, das auf ihren Tellern lag, war schwarz und verschimmelt. Die silbernen Becher waren dunkel angelaufen. Gwyn wankte mit schreckgeweiteten Augen zurück auf die Straße. Laub raschelte unter seinen Füßen.
Die Glocke erklang ein zweites Mal.
„Dir bleibt nicht viel Zeit“, wisperte eine Stimme.
Gwyn wirbelte herum, sah aber niemanden.
„Merlin?“, flüsterte er.
„Wenn die Glocke zum zwölften Mal geschlagen hat, wirst du diesen Ort nicht mehr verlassen können.“
„Wo seid Ihr? Sagt mir, was ich tun soll!“, rief Gwyn verzweifelt, aber erhielt keine Antwort.
Die Glocke schlug zum dritten Mal.
Hastig schaute er sich um. Konnte es sein, dass dies das Dorf war, von dem Roderick gesprochen hatte? Irgendwie hatte er es sich anders vorgestellt. Schmutziger, verkommener, nicht so aufgeräumt und geordnet. Nun, wundern konnte er sich auch später noch darüber. Jetzt musste er erst einmal Wyclif finden. Er nahm allen Mut zusammen und schaute in jedes der Häuser. Überall saßen Tote auf Stühlen und schienen auf etwas zu warten. Einige mochten schon eine Weile so dasitzen. Sie waren von Spinnweben umhüllt, die so dicht waren, dass sie an ein Leichentuch erinnerten. In seltsam lebendigen Posen waren ihre Körper erstarrt und nur an ihren milchig trüben Augen konnte Gwyn erkennen, dass der letzte Lebensfunke in ihnen bereits erloschen war.
Die Glocke schlug zum vierten Mal.
Gwyn beeilte sich. Er durchsuchte ein Haus nach dem anderen, doch in keinem fand er einen lebenden Menschen. Auf einmal vernahm Gwyn ein Quietschen, so leise, dass er es beinahe überhört hätte. Er rannte ein Stück weiter, bis er sich schließlich vor einer Schenke wiederfand, deren Schild leise hin und her schaukelte, obwohl sich kein Lufthauch rührte. Vorsichtig stieß Gwyn die Tür auf.
Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es musste einst eine gemütliche Gaststätte gewesen sein, doch jetzt war sie in einem erbärmlichen Zustand. Keiner der Tische war abgewischt. Alles versank unter einer dicken grauen Schicht, die auch den Boden bedeckte und Gwyns Schritte wie ein Teppich dämpfte.
„Wyclif?“ rief Gwyn. „Seid Ihr hier?“ Er hielt die Luft an und lauschte.
Die Glocke schlug zum fünften Mal.
„Wer ist da?“, fragte eine krächzende Stimme.
Gwyn machte vorsichtig einen Schritt auf den Tisch zu, der in der hintersten Ecke im Dunkeln stand. Ein schmaler Lichtstreifen fiel durch den Spalt der Fensterläden auf das bleiche, hohlwangige Gesicht eines Mannes, den Gwyn zunächst nicht erkannte, so sehr hatte er sich verändert. Um seinen Hals trug er ein mehrfach geknotetes Tuch.
„Seid Ihr Wyclif?“, fragte Gwyn.
„Wer schickt Euch? Mordred?“, fragte er misstrauisch.
„Nein.“
„Dann ist es ja gut“, brummte Wyclif. Er hob einen Becher an den Mund und versuchte einen Schluck zu trinken, stellte dann aber fest, dass das Gefäß leer war.
„Bedienung?“, rief er wütend. „Wie lange dauert das noch? Ich komme hier bald um vor Durst!“
„Erkennt Ihr mich wieder?“, fragte Gwyn.
Wyclif schaute sein Gegenüber prüfend an. „Nein, woher sollte ich Euch kennen? Obwohl… wenn ich es mir recht überlege, kommt Ihr mir schon bekannt vor.“ Er hob den Becher erneut an die Lippen. „Bedienung!“, fluchte er.
„Ihr habt etwas, was mir gehört.“
„Und was soll das bitte schön sein?“
„Ein Medaillon. Es zeigt ein springendes Einhorn.“
Die Glocke ertönte zum sechsten Mal.
Wyclif stand langsam auf. „Du? Du bist also dieser Bastard?“, zischte er wütend. Gwyn zog sein Schwert und richtete dessen Spitze auf Wyclifs Brust, der daraufhin zu lachen begann.
„Diese Waffe wird Euch hier nicht helfen“, sagte er rau. „Obwohl ich es mir wünschte. Dann wäre das hier endlich vorbei. Bedienung, verdammt! Ich habe Durst!“
Gwyn nahm den Wasserbeutel von seiner Schulter. „Ich schlage Euch ein Geschäft vor: Ihr gebt mir das Medaillon, und ich gebe Euch im Gegenzug mein Wasser.“
Wyclif starrte Gwyn an, als sei er nicht recht bei Verstand und reichte ihm dann den Becher. Gwyn entkorkte den Beutel und wollte etwas einschenken, aber es kam nichts heraus. Er drückte und schüttelte – ohne
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