Gymnasium - Ein Ratgeber fuer Eltern
Lineal, Stiften und Taschenrechner – am Esstisch zusammensitzen und die Stimmung zwischen vorsichtigem Zweckoptimismus (»Ich glaube, so könnte es gehen!«) und zunehmender Gereiztheit schwankt (»Ich versteh überhaupt nicht, was bei dieser Textaufgabe eigentlich gefragt ist!«), dann handelt es sich leider nicht um eine Szene aus einer Seifenoper im Fernsehen, sondern um den simplen Gemeinschaftsversuch, die Mathehausaufgaben des Kindes zu erledigen. 2
Nicht selten hört der Nachwuchs dann, wie Papa von Mama angegiftet wird: »Du hast doch immer gesagt, Mathe sei dir von jeher leichtgefallen!«, und Papa seinen totalen Blackout damit rechtfertigt, dass die Aufgabenstellung während seiner Schulzeit völlig anders gewesen sei. »Glaubt ihr mir jetzt endlich?«, wirft nun das Kind ein, hat aber zumindest eine wesentliche Erkenntnis fürs Leben gewonnen: Erwachsene wissen auch nicht alles.
Ohne Zweifel wird nicht nur das Kind selbst, sondern die ganze Familie durch die Hausaufgaben belastet, denn in den meisten Fällen sind sie
der
Aufreger. Wie bei dem dreizehnjährigenJonas zum Beispiel. An manchen Tagen sitzt er bis zum frühen Abend an seinen Hausaufgaben – allerdings ohne eindeutig erkennbares Ergebnis.
Seine Mutter hat sich deshalb angewöhnt, sich immer wieder neben ihn zu setzen und ihm bei Bedarf zu helfen. »Mache ich das nicht, träumt Jonas vor sich hin oder beschäftigt sich mit allem möglichen, nur nicht mit seinen Aufgaben. Jedenfalls wird er nicht fertig. Und dann gibt es natürlich endlose Diskussionen oder sogar Krach.«
Ließe sich ausrechnen, wie groß der tatsächliche Seelenschaden ist, den Hausaufgaben anrichten, müsste man sie auf der Stelle per Gesetz verbieten lassen. Doch stattdessen gibt es Schultag für Schultag genervte Eltern (»Mein Gott, wie kann man für die drei lächerlichen Aufgaben einen halben Tag brauchen!«), verzweifelte Kinder (»Ich hab keinen Plan, wie ich ein so langes Gedicht auswendig lernen soll!«) und sehr schnell entthronte elterliche Autorität (»Mama, du hast mir gestern was völlig Falsches in Mathe ausgerechnet. Ich hab dafür ’ne Fünf gekriegt!«).
Dabei dürfte es gar nicht erst so weit kommen, dass Hausaufgaben das Familienleben belasten, denn sie sollten vom Schüler in Eigenarbeit bewältigt werden und nicht eine Gemeinschaftsproduktion der ganzen Familie sein. Sie verfolgen mehrere Ziele:
Gelerntes einzuüben (wie zum Beispiel Grammatikregeln aus dem Englischunterricht);
das Gelernte eigenständig anzuwenden (wie zum Beispiel Formeln);
eigene Lerntechniken zu entwickeln (wie muss ich vorgehen, wenn das Wichtigste aus einem Text herausgearbeitet werden soll?);
dem Schüler wie auch dem Fachlehrer eventuelle Lücken deutlich zu machen und dadurch Handlungsbedarf zu signalisieren (Kontrollfunktion) sowie
insgesamt die Selbstständigkeit des Schülers zu fördern,denn bei den Hausaufgaben muss er Lernabläufe selber entdecken und bekommt nicht – wie im Unterricht meistens üblich – detaillierte Handlungsanweisungen.
Natürlich gibt es jede Menge Untersuchungen darüber, wie sinnvoll Hausaufgaben überhaupt sind, aber sie ergeben leider kein einheitliches Bild: Hausaufgaben belasten nur und bringen nichts, meint die eine Seite, während die andere darauf pocht, wie hilfreich und unerlässlich Hausaufgaben für den Unterrichtserfolg seien.
Hausaufgaben dürfen keinesfalls dazu dienen, Unterrichtsausfall in häuslicher Eigenarbeit nachzuholen. Ein Beispiel: An drei Tagen fällt der Deutschunterricht Ihres Kindes aus, weil der Fachlehrer auf Klassenfahrt ist. Und jetzt soll es dafür sieben Seiten im Buch selber erarbeiten? Ein Unding! Zumal es nicht Ihre Aufgabe ist, eventuell den Ersatzlehrer zu spielen – es sei denn, Sie haben insgeheim schon immer von einer Zweitexistenz als Lehrkraft geträumt. In diesem Fall könnten Sie zum Beispiel ein mehrtägiges Seminar zum Thema: »Hausaufgaben-Training für Eltern« buchen.
Nein, kein Witz! Das gibt es wirklich! Dort werden Ihnen nicht nur Hausaufgaben zu den eigentlichen Hausaufgaben aufgegeben, sondern Sie sollen laut Programm am eigenen Leib erfahren, wie sich Kinder in heiklen Situationen fühlen: Mit verbundenen Augen gilt es für die Kursteilnehmer, Türme aus Bauklötzchen zu bauen, gegängelt von anderen Kursteilnehmern, die – wie in der richtigen Schule – quengeln und drängeln. 3
Doch unabhängig davon, ob Sie nun eine solche Situation im Selbstversuch
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