Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt
Mutter solle rüberkommen.
Meine Mutter sagte zu mir: » Junge, du mußt zum Arzt laufen, die Frau Isaak hat Schlafmittel genommen.«
Gegenüber war ein Amtsarzt, ich bin im Laufschritt dahin gerast. » Da liegt eine Frau mit einer schweren Vergiftung!« Der Mann zog den Kittel aus und einen Mantel an und fragte: » Wo ist das? Wer ist das?– Ach, Isaak? Das sind ja Juden…« und zieht seinen Kittel wieder an. Die konnte ruhig draufgehn.
Beruf unbekannt, 1925
Ja, vor dem Krieg, in den dreißiger Jahren. Mein Vater ist bis 1933 Abgeordneter gewesen, in Berlin. Und von daher hatte ich familiär eine Beziehung zu der Widerstandsproblematik. Außerdem war ich in der Lebensgemeinschaftsschule, wo wir sehr viele Juden hatten. Ich wußte von einer Reihe von Freunden meines Vaters, daß sie im KZ waren.
Gastwirt, 1924
Von Pastoren hieß es: Der hat was Unvorsichtiges auf der Kanzel gesagt, den haben sie abgeholt. Daß die Kirche mit den Nazis kontra stand. Aber es gab auch Pastoren mit Parteiabzeichen.
Buchhändlerin, 1920
Nicht gesehen, aber gehört. Ein Bekannter war homosexuell, das war schon 1936, da hab’ ich gehört, daß er ins KZ kam.
Buchhändlerin
Ich hab’ erstmals 1936 vom KZ gehört, nach den Olympischen Spielen. Bis dahin wußte ich, daß Leute verhaftet und dabehalten wurden. 1936 war ich Angestellte in einer Buchhandlung, da hatten wir einen Angestellten, der Homosexueller war, und den hatten sie sich geschnappt und nach Oranienburg gebracht. Da ist dann eine Bekannte von mir zur Gestapo gegangen und hat gesagt: » Wo ist der Sowieso? Ich will das wissen! (Hat da ein Faß aufgemacht.) Ich kann ohne den nicht leben, will den mal wieder in meinem Bett haben« usw.
Und da haben sie den entlassen. Zehn Tage später kam der also wieder, mit kahlgeschorenem Kopf.
Optiker, 1913
Jetzt kommt die Welle gegen die Homosexuellen, dachte man.
Damals wurde ja noch ganz anders über Homosexuelle gedacht als heute. Diese Menschen verführten junge Menschen, und es sollte ja nun alles » sauber« sein.
Es ist nicht richtig, wenn man sagt: Man wußte nicht. Man wußte schon, aber nicht dieses Ausmaß. Man dachte, da kriegt mal einer Prügel oder wird schikaniert, aber doch nicht dies! Man sah das damals anders.
Zuerst hatte die SA die Bewachung, und die war nicht beliebt.
Als die SS die Sache übernahm, war man froh: Das ist eine Elite, dachte man, die wird für Ordnung sorgen.
Hitler ist gar nicht so schlecht, wurde gesagt, der schafft Ordnung. Aber die kleinen Hitler, das sind gescheiterte Existenzen, das ist furchtbar.
Erst 1938 bei der Kristallnacht änderte sich das.
Postkartenvertreter, 1908
Nein, von KZ s hab’ ich nichts gesehn.
Bei Gesprächen in der Bahn hat man mal davon gehört, sonst nichts. Auf der Büchner Strecke stieg mal ein ostpreußischer SS -Führer in mein Abteil zu, der sich dann behaglich und breit über seine Aufsehertätigkeit in einem KZ äußerte. Aber nicht unnett. Zum Beispiel, daß Häftlinge ihm nach ihrer Entlassung noch mal geschrieben hätten, wie nett das gewesen sei.
Da haben wir uns damals nichts dabei gedacht. KZ s waren damals noch nicht das, was sie später waren.
Kaufmann
Nein. Das einzige, daß ich mal ein Buch gelesen hab’, während der Nazizeit, eine Aufklärungsschrift über das KZ Oranienburg. Das war aber ein Buch, in dem die eigentlichen Schikanen nicht geschildert wurden. In dem KZ werde Reedukation betrieben, so dachte man, allerdings im Nazisinn. Das Buch war herausgegeben worden, weil im Volk gemunkelt worden war, daß es KZ s gab. Um dem entgegenzuwirken. Jeder hielt den Mund, aus Angst.
Hausfrau, 1918
Wir heißen Hochbaum, und ein Arzt in Schwerin hieß Rosenbaum, und die waren Juden. Und als mein Bruder dann bei den Pimpfen war, da wurde plötzlich gesagt: » Du kannst abmarschieren, du bist wohl auch ein Jude.« Da hat er gesagt: » Bloß, weil ich Hochbaum heiße? Ich bin aber keiner. Das kann ich dir beweisen.«
Also, das sind auch schon so Sachen. Die haben wir dann 1934/35 schon erlebt; aber noch nicht so auf diese ganz harte Tour, das Schlimmste hat man eigentlich kaum gewußt.
Kaufmann
Der Scholl ist mir begegnet als HJ -Führer, noch vor 1938. Damals war es noch üblich, daß jeder sich das Fähnlein aussuchen konnte, und Hans Scholl hatte ein Fähnlein, bei dessen Heimabenden er Stefan Zweig vorlas, » Sternstunden der Menschheit«, was also verboten war.– Ich sollte für dieses Fähnlein gekeilt werden, aber ich hatte
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