Habgier: Roman (German Edition)
geöffnet. Hier sind die Fotos, sag mir, was du davon hältst. Ich bin gleich wieder da.«
Während Decker seinen Kaffee genoss, kam er erst einmal an. Dann löste er die Schnur, mit der die Lasche des Umschlags verschlossen war. Das erste Foto war ein Polizeifoto – von vorne und beide Seiten im Profil – eines Mannes irgendwo zwischen zwanzig und vierzig. Es zeigte ein mit Bartstoppeln übersätes Gesicht mit wütenden Augen und einem höhnisch verzogenen Mund. Der Mann hatte dichtes schwarzes Haar und eine wulstige, zickzackförmige Narbe auf seiner breiten Stirn. Nicht viel lockere Haut da oben, also hatte das Nähen bestimmt ordentlich wehgetan. Laut den Angaben war Martin Hernandez ein Meter siebzig groß und wog dreiundsechzig Kilo. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war er siebenunddreißig Jahre alt. Decker legte das Foto gut sichtbar auf seinen Schreibtisch.
Es gab noch andere Bilder aus dem Gefängnis: ein sehr viel älterer Martin, der jetzt weiße Haare hatte, neue Narben und weitere Falten. Eine Serie schien nach einem tätlichen Angriff aufgenommen worden zu sein. Die Kamera dokumentierte ein zerschlagenes Gesicht mit zwei zugeschwollenen Augen und einer geplatzten Lippe. Martins Arme, auf einem separaten Foto abgebildet, waren von Messerschnitten bedeckt.
Die letzte Fotoserie zeigte einen klapprigen alten Mann mit einem Golden Retriever. Decker wühlte ein bisschen in den Unterlagen und entdeckte schließlich den dazugehörigen Zeitungsartikel. Martin Hernandez und sieben andere Häftlinge hatten an einem Hundetrainingsprogramm namens Last Chance teilgenommen. Zu »lebenslänglich« Verurteilte mit guter Führung hatten Hunde aus dem Tierheim zugeteilt bekommen, die sonst eingeschläfert worden wären. Die lokalen Tierschützer hatten die am besten geeigneten Hunde ausgewählt und mit der Gefängnisleitung ein Programm erarbeitet. Den Hunden wurde von den Gefängnisinsassen ein ganz bestimmtes Verhalten antrainiert, von dem Rollstuhlfahrer profitieren würden, wie zum Beispiel auf Kommando stehen zu bleiben oder loszugehen, Gegenstände zu apportieren, Licht an- und auszuschalten und Notfallhilfe. Der Hund von Hernandez hatte sich als der Champion erwiesen, und Hernandez wurde zum Sieger aller Gefängnishundetrainer gewählt.
Der alte Mann strahlte vor Stolz. Seine Augen versanken in dem vollkommen runden Gesicht, und sein Unterkiefer war – wie so oft aufgrund der fehlenden Zähne – eingefallen. Doch das Essen ohne Zähne schien seinen Appetit nicht gebremst zu haben. Seit seinem ersten Verbrecherfoto hatte er gut zwanzig Kilo zugenommen.
Marge kehrte mit zwei Muffins zurück. »Da draußen herrscht fast so was wie Krieg. Ich musste alle Tricks einsetzen, um die beiden letzten Muffins zu ergattern, und während der Schlacht hat einer seine Spitze verloren, was natürlich das Beste an dem ganzen Ding ist.«
»Nimm du den mit Spitze, ich nehm den geköpften.«
»Nein, den nehm ich, da ich sowieso auf Diät bin.«
»Du siehst doch gut aus! Wofür brauchst du eine Diät?«
»Eine Diät ist ein Dauerzustand, Peter. Es gibt Tage, an denen läuft’s besser, aber man lebt eigentlich immer damit.« Sie aß ein paar Krümel ihres Muffins. »Hm, das schmeckt lecker. Was hältst du von den Bildern?«
»Manny ähnelt seinem Vater nicht besonders. Die Polizeifotos, auf denen Martin dreißig ist, zeigen einen hageren kleinen Mann. Auf dem Hochzeitsfoto von Manny Hernandez mit zwanzig sieht man einen leicht untersetzten großen Mann mit runderem Gesicht. Keine Ahnung, wie hilfreich die Bilder sein werden, wenn der Computerspezialist Manny am Bildschirm altern lässt.«
»Du hast recht«, sagte Marge, »aber dennoch hat Martin etwas Vertrautes an sich. Ich glaube, Manny hat seine Augen geerbt.«
Oliver klopfte an den Türrahmen. In seinem marineblauen Anzug, einem gelben Hemd und einer roten Krawatte sah er sehr schick aus. »Manchmal tritt dir das Leben in den Hintern, und manchmal gewinnst du den Jackpot. Ich habe Alyssa Bright Mapplethorpe im Telefonbuch nachgeschlagen, und die Frau ist eingetragen! Als ich die Nummer angerufen habe, nahm sie höchstpersönlich ab! Und als ich ihr den Grund meines Anrufs mitgeteilt habe, war sie sehr aufgeschlossen. Mehr noch – sie will uns unbedingt helfen. Ich treffe sie um zehn Uhr.«
»Bin dabei«, meldete sich Marge.
Oliver sah Decker an, der sagte: »Ihr beide geht allein. Während meiner zweitägigen Abwesenheit hat sich der Papierkram hier verzehnfacht
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