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Haertetest

Haertetest

Titel: Haertetest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katri Dietz
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Nasse Haare hingen mir ins Gesicht, ich wischte sie beiseite und öffnete die Haustür.
    Die Gestalt, die vor mir stand, war dünn, blass, hatte tiefe schwarze Augenringe und wild vom Kopf abstehende blonde Locken. Ich erschrak. Die Person schrie auf. Ich schrie vor Schreck gleich mit. Dann erkannte ich sie.
    »Lilly!«
    »Gott, Sophie, du siehst aus wie ein Gespenst!«
    Ach so, ich hatte ja auch noch meine Gesichtsmaske auf.
    »Äh, du aber auch«, entgegnete ich. Als ich dazu die Augenbrauen hochziehen wollte, um meinem Erstaunen über ihr Äußeres mehr Ausdruck zu verleihen, fielen mir große zementartige Bröckchen von der Stirn. Lilly schrie noch mal.
    »O Gott, du blutest! Was ist denn passiert?«
    Anscheinend hatte ich das Blut mit einem Wisch über dem ganzen Gesicht verteilt, als ich mir die Haare nach hinten strich.
    Wir wirkten wohl beide wie Figuren aus einem Zombiefilm.
    Aber auch wenn Lilly ziemlich fertig aussah: Von uns beiden gewann ich heute mit Sicherheit den Wettbewerb für das gruseligste Kostüm des Tages. Dabei war Halloween doch erst in zwei Wochen.
    »Na, dann erzähl mal! Was ist denn los?«, fragte ich zehn Minuten später neugierig und nippte an meinem Weinglas.
    Meinen Schnitt am Fuß hatte ich verbunden und drohte nun nicht mehr zu verbluten. Das Einzige, was nun noch blutrot im Schein einer Kerze funkelte, war der Rioja in unseren Gläsern. Mein eigenes Gedankenkarussell hatte jetzt Sendepause. Gespannt wartete ich auf Lillys Bericht.
    »Ich hab jemanden kennengelernt. Oder besser: Ich hab mich verliebt!«, gestand sie. Sie sah mich geradeheraus an und wartete auf meine Reaktion. Natürlich war ich immer auf ihrer Seite, egal was passierte. Das wusste sie doch hoffentlich. Und ich war auch erst mal viel zu perplex, um sie zu verurteilen.
    »Was? In wen? Warum?«
    »Ich kenn ihn aus dem Internet«, erzählte sie.
    Ich hob die Augenbrauen. Sie reagierte prompt auf meine nicht gestellte Frage.
    »Nein, nicht, was du denkst, keine Flirt-Seite für Singles; wir haben uns im St.-Pauli-Forum kennengelernt.« Ach ja. Lilly war großer  FC -St.-Pauli-Fan und schrieb gelegentlich dort im Forum. Aber wie konnte sie sich dort  verlieben?
    »Er hat dort auch viel geschrieben und kommentiert, und ich mochte seinen Stil. Er ist lustig und süß und weiß einfach alles über St. Pauli. Wir haben schon gesagt, wir sind bestimmt seelenverwandt, und wahrscheinlich haben wir uns schon ein paar Mal im Stadion getroffen, ohne es zu merken.« Sie lachte.
    »Dann haben wir E-Mail-Adressen getauscht und privat weitergeschrieben. Er ist einfach echt total süß. Und er sieht super aus. Wir haben Fotos geschickt und alles. Er schreibt so lieb, und ich hab richtig Herzklopfen, wenn ich sehe, dass er mir geschrieben hat. Er flirtet einfach total mit mir. Das hab ich so vermisst. Holger flirtet jedenfalls nicht mit mir.  Gib nicht so viel Geld aus!  ist so ungefähr das Einzige, was er zu mir sagt.«
    Tränen traten in Lillys Augen. Sie schniefte. Der Schwellung ihrer Augenlider nach tat sie das heute nicht zum ersten Mal.
    »Warte mal, ihr schreibt euch nur?« Ich schöpfte Hoffnung. »Oder habt ihr euch schon getroffen?«
    Lilly schluckte und trank ihr halbes Glas Wein auf ex.
    »Nein! Aber er  will  sich mit mir treffen! Wir schreiben uns jetzt seit zwei Wochen. Aber ich bin irgendwie noch nicht richtig bereit dafür, ihn zu sehen. Bis jetzt ist er so eine Spinnerei, versteht du? Ich muss ja irgendwie auch überlegen, was ich mit Holger mache. Aber wenn ich mich entscheiden müsste …« Sie seufzte.
    »Na, davon spricht ja noch niemand. Du musst dich erst mal gar nicht entscheiden.«
    Ich war wirklich völlig vor den Kopf gestoßen. Das ging schon  zwei Wochen,  und sie hatte mir nichts davon erzählt? Allerdings hatte ich ihr ja von Jessica auch noch nichts erzählt.
    »Wie heißt er, wo wohnt er, wie sieht er aus, wie alt ist er?«
    Lilly kam kurz ins Stocken. »Ähm, also so genau weiß ich das nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Wir haben gesagt, wir wollen über unseren Alltag nicht reden. Wir genießen das, über alles andere zu schreiben. Ich weiß aber, dass er Henning heißt und vierunddreißig ist. Und ich denke, dass er aus Hamburg kommt, weil er sich Elbkapitän76 nennt und eben Pauli-Fan ist. Er ist eben so was wie eine Realitätsflucht für mich.«
    Ja, so eine kleine Realitätsflucht tat auch manchmal verdammt gut. Aber jetzt musste sie langsam mal wieder Boden unter den Füßen bekommen.

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