Härtling, Peter
Demokratie, doch die Angst mache eben aus manchen Zuträger und Spitzel.
In Tübingen übernachten sie im »Lamm«. Weißt du noch? Sinclair will Hölderlins Erinnerung wachrufen, doch der verneint: Ich weiß nichts mehr, und es ist auch nicht wichtig.
Sinclairs Berichte haben ihn erregt. Er fühlt sich in eine Verschwörung von Namenlosen gezogen, austauschbaren Schatten; vielleicht weiß Sinclair gar nicht, wie sehr seine Ideale besudelt und verhöhnt werden. Auf der Fahrt nach Stuttgart, wo der Anblick von Bebenhausen Hölderlin doch dazu bringt, von den guten alten Tagen zu schwärmen, dem Jugendrausch, und allen heiligen Hoffnungen, fängt er plötzlich an, über Politik zu sprechen, über die Zeit: Ich zweifle nicht, Isaac, ich nicht, und wenn du annimmst, ich hätte mich zurückgezogen, ich bemerkte die Zeit nicht mehr, so irrst du. Keiner von euch hat soviel mit den Unbelehrten, den Ängstlichen geredet wie ich, Männern in der Charente, die es nicht fassen konnten, daß man ihnen ihren König geraubt hat und die dennoch auf die Republik schwuren. Aus Furcht, Sinclair! Und niemand hat ihnen das Bessere erklärt, den wunderbaren Sinn der Verfassung, alle jene Aussichten, die uns aus der Trägheit befreien. Niemand! Sie sahen immer nur Soldaten, die im Namen der Republik zu Dieben wurden, folterten und mordeten. Der Widerspruch, Isaac … Ich …
Er bricht ab, horcht seiner Stimme nach. Seit langem hat er nicht mehr zusammenhängend geredet, nicht geglaubt, daß er es noch könne. Er kann es auch nicht mehr. Es war ein Rest.
Ich will’s erleben, sagt er mehrmals nacheinander.
Was, Hölder?
Wart ab!
Solche Fahrten gehen jetzt über seine Kraft. Als der Wagen in Stuttgart vorm Gasthof, dem »Römischen Kaiser« anhält, zittert er, Schweiß steht ihm auf der Stirn. Er will Sinclair von seiner Schwäche ablenken und sagt: Da, um die Ecke, wohnt Landauer.
Er wird dich besuchen kommen.
In der Gaststube wird Sinclair von einem Herrn schon erwartet.
Ich will nicht mehr mit Leuten zusammenkommen, ich will niemanden mehr kennenlernen. Es ist mir zuviel.
Hölderlin sagt es so laut und heftig, daß ihn der Unbekannte hören muß. Sinclair nimmt ihn am Arm, zieht ihn mit sich. Wolltest du nicht aus deiner Einsiedelei heraus, Hölder? Sollte ich dir nicht helfen?
Der Mann stößt ihn ab. Blankenstein, Alexander Blankenstein, stellt Sinclair vor. Und das ist mein Freund Friedrich Hölderlin.
Im Gespräch gewinnt Blankenstein eigentümlich, er verhält sich, im Widerspruch zu seiner stutzerhaften Kleidung, bescheiden, aufmerksam, läßt die anderen reden, gibt knappe Auskünfte. Freilich begreift Hölderlin mehr und mehr, daß Blankensteins Lauschen ein Lauern ist, daß er alles festhält, was ihm zugetragen wird, um es irgendwann böse zu verwenden.
Blankensteins Geschichte muß Hölderlin sich selber zusammentragen. Sinclair hat wenig Neigung, ihm über diesen Mann Auskunft zu geben. So hört Hölderlin manches von Baz, in Homburg von Sinclairs Mutter, der Frau von Proeck, und seinem Zimmerwirt, dem Uhrmacher Calame. Die Geschichte Blankensteins verwirrt sich ihm, wird bedrohlich und rätselhaft. Er fürchtet, daß Blankenstein nicht nur Sinclair verfolge, sondern auch ihn, ein finstrer, sich tarnender Geist, einer jener Dunkelmänner, die ihn seit Frankfurt nicht in Ruhe lassen wollen. Dann berichtigt er sich wieder: Wie kann ein Mann von einundzwanzig Jahren, zwar eine abenteuerliche Natur, doch nicht mehr, ihm gefährlich werden? Durchtrieben ist er auf jeden Fall. Er hat Sinclair in dem knappen Jahr, seit sie sich kennen, in Machenschaften verwickelt, die Hölderlin unklar bleiben, Lotterien, Finanzprojekte, den Plan eines Komitees, das den verschuldeten Fürsten helfen soll, diese Fürstenlotterie, von der Blankenstein dauernd faselt. Woher dieser Mann kommt, daß er ein getaufter Jude ist und Sinclair sein Pate, läßt Hölderlin gleichgültig; nicht aber, daß er dominiert, daß er Sinclair leitet und beeinflußt. Um so erleichterter ist Hölderlin, als Sinclair ihm eingesteht, sich von Blankenstein trennen zu wollen. Das könne allerdings nicht gleich geschehen und werde Folgen haben.
Die politischen Gespräche, in die er einbezogen wird, erlebt Hölderlin als Rituale, sich beschleunigende Wiederholungen von Vorsätzen und Sätzen, von Hoffnungen und Niederlagen. Er lernt es achtzugeben, wachsam zu sein, sich nach Spitzeln umzusehen, Türen zu öffnen, ob nicht Lauscher hinter ihnen stehen, fast
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