Härtling, Peter
Mutter, seinem Vater und Caroline Schlegel vor.
Sie wird meine Frau. Du bist noch gar nicht verheiratet?
Nein. Wieso?
Ich hab’s halt gehört.
Schelling gibt sich Mühe mit ihm, er könne bei ihm, auf seinem Zimmer, übernachten, sie hätten sich ja viel zu sagen – das letzte Mal sahen wir uns in Frankfurt. Hölderlin fürchtet, falsche Antworten zu geben, und schweigt. Er wird erst lebhafter, als sie auf seine Arbeit zu sprechen kommen, zieht aus einer Tasche die Sophokles-Übersetzung, den Ödipus und die Antigone, liest daraus vor, bringt die Blätter durcheinander, sucht, Schelling hilft ihm, die Seiten zu ordnen, er habe auch eine Erläuterung zu dieser Übersetzung verfaßt, und die sei besonders wichtig: »In der äußersten Grenze des Leidens bestehet nämlich nichts mehr, als die Bedingungen der Zeit oder des Raumes. In dieser vergißt sich der Mensch, weil er ganz im Moment ist; der Gott, weil er nichts als Zeit ist; und beides ist untreu, die Zeit, weil sie in solchem Momente sich kathegorisch wendet, und Anfang und Ende sich in ihr schlechterdings nicht reimen läßt; der Mensch, weil er in diesem Momente der kathegorischen Umkehr folgen muß, hiermit im Folgenden schlechterdings nicht dem Anfänglichen gleichen kann.« Hölderlin fügt in die Pause, die eintritt, hinzu: Es handelt sich, wie man sehen kann, um die doppeltgewirkte Wahrheit.
Was verstehst du darunter, fragt Schelling.
Ich hab’s erlebt.
Danach ist er nicht mehr zu einem Gespräch zu bewegen.
Er nimmt freundlich schweigend an den Mahlzeiten teil, anderntags an einem Ausflug, den Schellings Familie unternimmt, wobei sie Hölderlin mehrfach drängen, heimzukehren, aber er tut nichts dergleichen, bleibt die zweiteNacht, verabschiedet sich am frühen Morgen darauf: die Begegnung sei ihm ein Gewinn gewesen.
Zu Hause schließt er sich wieder ein. Johanna, die wissen will, was Schelling gesagt habe, wie es ihm gehe und der jungen Frau, erfährt nichts. »Der traurigste Anblick, den ich während meines hiesigen Aufenthalts gehabt habe, war der von Hölderlin«, schreibt Schelling an Hegel. »Seit einer Reise nach Frankreich … ist er am Geist ganz zerrüttet, und obgleich noch einiger Arbeiten, z. B. des Übersetzens aus dem Griechischen bis zu einem gewissen Puncte fähig, doch übrigens in einer vollkommenen Geistesabwesenheit. Sein Anblick war für mich erschütternd: er vernachlässigt sein Äußeres bis zum Ekelhaften und hat, da seine Reden weniger auf Verrückung hindeuten, ganz die äußeren Manieren solcher, die in diesem Zustande sind, angenommen.« Hegel, der, wie Schelling, inzwischen Privatdozent in Jena war, solle doch erwägen, Hölderlin nach Jena zu holen, vielleicht fände sich eine Hofmeisterstelle. Man müßte Hölderlin jedoch »von Grund aus wieder aufbauen. Hätte man erst über sein Äußeres gesiegt, so wäre er nicht weiter zur Last, da er still und in sich gekehrt ist«. Hegel gibt vor, sich um die Angelegenheit zu kümmern, schreibt aber keine Zeile an Hölderlin.
Sie tuscheln hinter seinem Rücken, setzen sich, vorsichtig, von ihm ab. Er ist aus dem Kreis gefallen, nicht mehr fähig, voranzukommen, Gleicher unter Gleichen zu sein. Nur Sinclair meint es ernst. Er drängt weiter. Es ist Sommer geworden, Hölderlin könne in Homburg »bequem und wohlversorgt« wohnen und werde eine Besoldung von zweihundert Gulden erhalten. Johanna wehrt weiter ab. Hölderlin erfährt von diesem Briefwechsel nichts. Die Mutter will, kann ihn nicht fortgeben.
Ein Brief des Frankfurter Verlegers Friedrich Wilmans reißt Hölderlin aus der abweisenden Untätigkeit. Wilmans ist bereit, die Sophokles-Übersetzung in seinen Verlag zu nehmen und bittet ihn außerdem, Gedichte für ein von ihm herausgegebenes Taschenbuch zu senden.
Jetzt muß er arbeiten, zwingt sich dazu, fordert von den Frauen noch größere Ruhe als zuvor, läßt sich jedoch häufiger sehen, ist mitteilsamer. Köstlin legt er ab und zu Verse aus dem Ödipus zur Prüfung vor, er achtet auch mehr auf seine Kleidung.
Planck, der einen merklichen Fortschritt im Befinden seines unwilligen Patienten feststellt, täuscht sich. Der Rückfall tritt ohne die üblichen Wutausbrüche ein. Es ist ein sprachloser Krampf. Hölderlin wendet sich abrupt von seiner Umgebung ab. Was er in seiner Stube treibt, wissen die Frauen nicht. Nun dürfen sie auch nicht mehr aufräumen. In dem Zimmer stinkt es unerträglich. Auf dem Fensterbrett sammelt der Kranke in einer Schüssel
Weitere Kostenlose Bücher