Härtling, Peter
derer er nicht Herr werden konnte.
Nun kommt diese Krankheit wieder.
Bei Tag, wenn er mit Vernunft sich die Alpträume ausreden konnte, gelang es ihm, eine andere Elise zu phantasieren, unangefochten von den schwülen Phantasien, eine Seele eher als ein Geschöpf, eine Erscheinung mehr als eine Gestalt. Wieder idealisierte er die Geliebte, um ihr fern bleiben und ihr nur in Gedanken alle Sehnsucht aufladen zu können: »Daß ich wieder Kraft gewinne, / Frei wie einst und selig bin, / Dank ich deinem Himmelssinne, / Lyda, süße Retterin!«
Der Zufall führte sie wieder zusammen. Er war mit einigen Studenten zu einer Auktion gegangen, nicht, um etwas zu ersteigern, sondern um sich zu belustigen, gesellig zu sein.
Er sah sie gleich, mit ihrer Mutter, wollte den Saal verlassen, aber sie hatte ihm lächelnd zugenickt, Frau Lebret hatte ihn ebenfalls bemerkt, so daß er sich entschloß, zu bleiben und nach der Veranstaltung auf die beiden Damen zu warten.
Sie gefiel ihm wieder, kam ihm reifer vor als die andern Mädchen ihres Alters. Von Neuffer wußte er, daß sie sechzehn sei. Die Mutter lud ihn zu einem gemeinsamen Spaziergang ein, ließ ihn und Elise einige Schritte vorangehen, damit sie sich ungestört unterhalten konnten. Er erzählte von seiner Lektüre, daß er eben Herders »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« lese und Rousseaus »Contrat social«, merkte, daß er das Mädchenlangweilte, und schilderte Rikes Alltag in Nürtingen, den Kreis der Mädchen, so anschaulich, daß Elise lachte: Sie erzählen schön.
Ja? Nur, weil ich mich angenehm erinnere.
Wollen Sie mich besuchen kommen? Mein Vater sähe es gern.
Er wunderte sich, wie ungeniert sie ihn einlud.
Wenn es die Zeit mir erlaubt. Ich danke Ihnen.
Nicht wahr, hier in Tübingen ist es doch oft sterbenslangweilig.
Wir müssen so viel lernen, daß es uns gar nicht auffällt.
Auf einem der Feste im nächsten Winter tanzte sie fast ausnahmslos mit einem anderen, einem Juristen, der bekannt war für seine Amouren. Sie himmelte ihn vor den Augen aller an. Er hätte nicht erwartet, so eifersüchtig zu sein. Er saß am Rand des Saals, sah ihr zu. Manchmal streifte sie ihn mit einem neugierigen Blick. Lebret, dem das Verhalten seiner Tochter sichtlich peinlich war, verwickelte ihn in eine gelehrte Unterhaltung und winkte nach einiger Zeit Elise zu sich. Sie habe noch kaum mit dem Herrn Hölderlin getanzt.
Der Herr Sutor ist aber ein exzellenter Tänzer.
Herr Hölderlin steht auch nicht in dem Ruf, schlecht zu tanzen.
Er könne, sagte Hölderlin, für sich selber sprechen.
Dann tu Er’s.
Sie tanzten. Erzählen Sie, bat ihn Elise, schweigen Sie nicht so. Sie zog ihn, nach dem Tanz, aus dem Saal, kommen Sie, sagte sie, ich mag die Leute nicht mehr sehen, sie gerieten in einen engen Flur, der voller Gerümpel stand, unvermittelt zog sie ihn an sich, küßte ihn auf Wange und Lippen, preßte sich gegen ihn, sagte: Warummuß ich denn alles selber machen, Fritz, warum nimmst du mich denn nicht in den Arm.
Sie vertreibt ihn. So weit hatte er nur in den Träumen gehen wollen. Außerdem fürchtet er Verwicklungen, Vorwürfe Lebrets, auch daß die Gefühle banal werden könnten. Er sah sie wieder weniger. Sie schrieb ihm viel. Ihre Briefe sind dringlich.
Er wollte ihr aus dem Weg gehen. Es gelang ihm nicht, denn Neuffers Mutter, die Griechin, hatte Elise ins Herz geschlossen und lud das Mädchen immer häufiger nach Stuttgart ein. Sie gehörte bald fest zu dem munteren Zirkel der Schwestern. Allerdings hielt sie sich meist zu anderen Zeiten in Stuttgart auf als er, so begegnete er ihr nur zwei- oder dreimal.
Einmal gelang es ihr, ihn ohne Begleitung zu einem Spaziergang zu entführen. Sie schlenderten nebeneinander, er achtete auf den Abstand. Während er sprach, dachte er unablässig daran, daß sie sich sicher wünsche, er solle sie küssen. Ihr Gesicht war von Spannung und einer sich steigernden Ungeduld schön, er fürchtete, sie könnte ihn wieder überfallen, hielt an, umarmte sie sanft. Ihren Körper spürte er kaum. Das duldete sie jedoch nicht, sie nahm ihn fester, küßte ihn, legte ihren Kopf an seine Brust, begann eine für ihn »furchtbare« Wärme auszusenden. Er machte sich los. Sie fing an zu lachen. Er wollte ihre Hand nehmen, sie zog sie zurück, lief vor ihm den Abhang hinunter. Am Abend, mitten unter den anderen, setzte sie sich neben ihn und sagte, so daß es alle hören konnten: Du bist mir nicht mehr bös, lieber Fritz
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