Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
sie in einer festen Umarmung übereinander.
»Ich weiß es nicht genau. Meine Mutter sitzt im Gefängnis, und mein Vater kann sich nicht richtig um mich kümmern.«
Nora nickte, als würde sie verstehen.
»Verdammt schwierig, Gefängnis! Meine Mutter hat zu viele Pillen geschluckt und war ganz allgemein verrückt, aber Gefängnis ist ziemlich cool!«
Sie schüttelte beeindruckt den Kopf und faltete ein Handtuch.
Alle Bewohner des Sonnenblumenhofs mussten Arbeiten übernehmen, die sie reihum erledigten. Lovisa hatte Julia das System am Morgen erklärt und sie und Nora für die Waschküche eingeteilt.
»Also, es war nicht nur das mit den Tabletten und so, sie konnte mich nie anfassen, sie bildete sich ein, dass ich und die ganze Welt voller Bazillen waren. Wenn sie mich anfassen musste, dann hat sie sich hinterher immer minutenlang die Hände gewaschen. Völlig verrückt. Du solltest ihre Hände sehen, fast keine Haut mehr, deswegen hat sie immer weiße Baumwollhandschuhe getragen.«
Sie lachte freudlos und nahm ein weiteres Handtuch vom Stapel. Julia stellte sich neben sie und nahm auch ein Handtuch und versuchte, es so wie Nora zusammenzulegen. Später stellte sie fest, dass Nora immer schnell und manisch redete. Ein ständiger Strom von Worten musste heraus, ganz gleich, ob sie beschrieb, was sie gerade machte, oder ob es um die Mutter ging, die sie nicht anfassen konnte. Hauptsache, es war nicht still. Als könnten die Worte die Leere bannen, die im Schweigen lauerte.
»Weißt du, ich bin in Rumänien geboren und dann adoptiert worden. Ich war in einem ekligen Kinderheim, bis ich eineinhalb Jahre alt war, dann haben meine Eltern mich geholt. Halb verhungert und voller Wunden von den Läusen, die uns nachts auffressen wollten. Vielleicht hat das meine Mutter verrückt gemacht. Weil ich so dreckig und eklig war, ist sie durchgedreht. Mein Vater hat mich ja angefasst, er hat mich herumgetragen und ins Bett gebracht und so. Aber er hat den Waschzwang von meiner Mutter nicht ausgehalten und ist abgehauen, als ich vier war. Seither treffe ich ihn nur ab und zu, ein paar Mal pro Monat.« Sie schwieg und verzog die Stirn, als würde sie nachdenken. »Und seit ich hier bin, noch seltener.«
Julia versuchte sich vorzustellen, wie es war, wenn die Mutter einen nie anfasste.
Nora schaute sie ernst an.
»Also, es ist wirklich kein Wunder, dass ich Probleme bekommen habe, das sagen alle hier, Maud, Lovisa, Anders, sogar Kricke.«
Julia nickte vorsichtig und nahm ihren Mut zusammen.
»Was für Probleme?«
Nora lächelte, ihre Augen glänzten.
»Na ja, alles Mögliche. Jungs, Alkohol, auch stärkere Sachen. Ich habe oft geschwänzt. Ich wurde schwer erziehbar, wie meine Mutter es nannte. Diese Frau kann mich so wahnsinnig machen, dass ich nicht mehr weiß, was ich tue!«
Bei dem Gedanken daran schien Nora wieder wütend zu werden, ihre Augen wurden schmal, und sie fuhr mit leiser Stimme fort.
»Ich habe ihr Schimpfwörter an den Kopf geworfen. Einmal wollte ich sie sogar schlagen. Hab einen Schirm gepackt und auf sie eingeprügelt. Sie hat geschrien wie am Spieß und sich in der Toilette eingeschlossen. Immer mit den Baumwollhandschuhen.«
Nora lachte, Julia lachte auch ein wenig.
»Und du, was hast du für Probleme gemacht?«
Julia hörte auf zu lachen und überlegte fieberhaft, was sie sagen könnte. Nora sah wohl ihre Unsicherheit und machte Vorschläge.
»Drogen?«
Julia schüttelte den Kopf.
»Alkohol?«
Sie schüttelte wieder den Kopf.
»Na ja, irgendetwas musst du gemacht haben, wenn du hier gelandet bist. Schule geschwänzt?«
Julia nickte eifrig.
»Ja, ich habe geschwänzt. Und bin von zu Hause ausgerissen.«
Nora nickte, sie schien erleichtert zu sein, dass sie den Grund gefunden hatte. Sie beugte sich zu Julia und flüsterte.
»Du, Tess, das andere Mädchen, nicht Sussie, die mit den Dauerwellen, sondern die andere, die mit den mausgrauen, strähnigen ekligen Haaren?«
Julia nickte. Sie hatte sie beim Frühstück gesehen, ein stilles Mädchen, das mit gesenktem Kopf im Essen stocherte.
»Sie hat gesehen, wie ihr Vater sich ins Gesicht geschossen hat, da war sie elf. Seither spinnt sie. Sie ist direkt aus der Kinderpsychiatrie hierhergekommen, und wenn du mich fragst, hätte sie dort bleiben sollen. Der Meinung ist auch das Personal, ich habe mal gehört, wie Maud und Lovisa mit Anders im Büro geredet haben. Der Sonnenblumenhof ist kein Ort für sie. Sie wird jeden Tag schweigsamer. Außer
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