Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
Nach dem Essen hatten zwei Mädchen, Nora und Sussie, den Tisch abgedeckt und gespült, Ronny hatte sich aufs Sofa vor den Fernseher gesetzt. Julia hatte gesagt, sie sei müde, und war für den Rest des Abends in ihrem Zimmer verschwunden. Das Personal hatte sie in Ruhe gelassen, vielleicht war es normal, dass Neuankömmlinge sich am Anfang zurückzogen.
Es quietschte weiter hinten im Flur. Julia überwand ihr Unbehagen, öffnete ganz vorsichtig die Tür und schaute hinaus. Am Ende des Flurs sah sie zwei dunkle Gestalten aus dem Fenster klettern, Nora und Sussie. Es klapperte, als sie auf den Absatz vor dem Fenster stiegen, dann waren sie verschwunden. Es war wieder still im Haus, Julia wartete ein paar Sekunden, dann schlich sie ans Ende des Flurs. Das Fenster war noch halb offen, sie beugte sich hinaus und sah eine rostige Feuerleiter, die an der Fassade befestigt war. Auf der Straße, die direkt am Sonnenblumenhof entlangführte, liefen Nora und Sussie. Um diese Zeit war kaum Verkehr auf der Straße, nur ein paar Lastwagen donnerten vorbei.
Raureif überzog die kahlen Apfelbäume im Garten wie eine glitzernde Haut, der Garten war wie aus einem Märchenbuch. Julia schaute zum Himmel hinauf, es gab keinen Mond und keine Sterne, dunkle Wolken machten das Dunkel der Nacht so kompakt, dass sie die beiden Gestalten nur im Licht der Straßenlaternen sehen konnte. Sie sah, wie sie die Straße überquerten, über eine Absperrung sprangen und dann zu einem Fahrradweg liefen.
Plötzlich löste sich eine weitere schwarze Gestalt aus dem Gebüsch, der Größe nach zu schließen war es ein Mann. Nora und Sussie schien sein Auftauchen nicht zu erschrecken, er wurde erwartet.
Der Mann überreichte Nora ein Paket, das sie in die Jacke steckte. Dann gingen sie zusammen auf dem Radweg zum Wald. Wenn es nicht mitten in der Nacht gewesen wäre, hätten es drei Freunde auf einem Spaziergang sein können.
Julia schaute ihnen noch eine Weile nach, dann wurden sie von der Dunkelheit verschluckt. Als sie nichts mehr sehen konnte, ging sie in ihr Zimmer zurück und kroch ins Bett. Sie zog die Decke bis unters Kinn und starrte an die weiße Decke. Ihr Kopf war leer, eine Leere, die spannte und dröhnte, als wollte sie den Kopf in tausend Stücke sprengen.
Sie konnte nicht länger im Bett bleiben, stand auf, ging zum Fenster und schaute in den Garten, lauschte dem Atmen des Hauses, dem Knacken in den Wänden und Dächern.
Maud hatte gesagt, dass sie und Lovisa heute Nachtdienst hatten, es beruhigte sie zu wissen, dass sie ein paar Meter weiter schliefen. Noch konnte sie auf ihr Lächeln und die freundlichen Kontaktversuche nicht eingehen, aber sie war doch erleichtert, dass alle so nett waren. Der Heimleiter Anders, Lena mit den glänzenden braunen Haaren, die sie hergebracht hatte, Maud, Lovisa, alle waren weich und warm wie eine Wolldecke.
Sie überlegte, ob sie wohl eine von ihnen wecken und um eine Kopfschmerztablette bitten sollte, aber ihre Überlegungen wurden unterbrochen, als sie Geräusche hörte, die verrieten, dass Nora und Sussie zurückkamen. Sie schlichen durch den Flur, aber offenbar stießen sie gegen etwas. Ein dumpfer Knall, gefolgt von unterdrücktem Kichern. Es traf Julia wie ein Schlag in die Magengegend. Das Lachen verriet eine Zusammengehörigkeit, die entsteht, wenn man nächtliche Geheimnisse teilt.
Sie vermisste Emma. Und Annika.
Die Klaue in ihrem Bauch stach zu, langsam nahm eine Erkenntnis Gestalt an. Sie konnte nicht hier bleiben. Egal, wie nett alle waren. Irgendwie musste sie fort, weg.
»Hier kommt das Waschmittel rein und hier der Weichspüler, dann stellt man das Waschprogramm ein, so. Total einfach.«
Nora trat einen Schritt zurück und schaute Julia an, um sicher zu sein, dass Julia die Vorführung verstanden hatte. Ihre dunklen Haare lagen ihr wie ein glänzender Helm um den Kopf. Mit ihrer rundlichen Stupsnase und den dunklen Augen sah sie ein bisschen aus wie ein Bieber.
Nora drückte auf den Startknopf, die Maschine startete mit einem Brummen, Nora lehnte sich an den Tisch und betrachtete Julia.
»Warum bist du hier?«
Julia schaute sie an, wusste nicht so recht, was sie antworten sollte. Warum war sie eigentlich hier? Der Brand- und Benzingeruch und Giselas erregtes Gesicht mischten sich mit dem Geruch der Waschküche. Ein anderer Geruch drängte sich vor, fade und übel riechend, mit einer deutlichen Note von Rasierwasser. Julia schauderte, ihre Arme begannen zu zittern. Sie schlug
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