Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
sie schon so oft gehört und bisher immer verachtet hatten. Emma hörte es selbst, und sie sah, wie Julia erstarrte, das Weinen hörte auf, aber die Tränen liefen weiter.
»Es ist nicht das Fieber. Es ist alles, was passiert … ich kann fast nicht schlafen, weil um …«
Und sie fing wieder an zu weinen. Emma schaute verlegen auf die blau geblümte Tapete, ihre Unsicherheit nahm zu.
Ahnte Julia vielleicht ihre Angst? Ob sie wohl spürte, dass Emma nichts von Albträumen und dunklen Nächten wissen wollte?
Julia schwieg, und Emma wartete darauf, dass sie weitersprechen würde. Aber das tat sie nicht, das Weinen wurde leiser und verstummte dann ganz.
Da beging Emma die Dummheit, von Cesar zu erzählen. Sie wollte sich gerne einreden, dass es die Sehnsucht war, das Glück zu teilen, so wie sie es bisher immer getan hatten. Sie hoffte, ihr Glück würde Julia ein bisschen helfen. Zumindest war es bisher immer so gewesen. Wenn Emma sich freute, freute sich Julia.
Sie wusste nicht so recht, wie sie sich in dieser neuen Situation verhalten sollte, was man machte, wenn die eine glücklich war und die andere traurig. Wessen Gefühl hatte den Vorrang?
Sie erzählte gerade, wie wahnsinnig es gewesen war, als Ingrid sie in der Bibliothek beim Knutschen erwischte, da sah sie, wie Julia die Augen schloss und sich zur Wand drehte. Als Julia keine Reaktion zeigte, erzählte Emma immer eifriger. Aber jetzt war nicht mehr zu übersehen, dass Julia das nicht hören wollte. Emma schwieg und wartete eine Weile auf eine Reaktion oder eine Erklärung. Als Julia still zur Wand gedreht liegen blieb, spürte sie plötzlich eine Scham wie nie zuvor. Die Sekunden des Schweigens kamen ihr so endlos vor, dass Emma feuerrot im Gesicht wurde. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus.
»Julia?«
Julia antwortete nicht.
»Julia, was ist denn?«
Leise, kaum hörbar, drang Julias Gemurmel von der Wand zu ihr.
»Ich kann nicht mehr. Ich glaube, ich muss mich ein wenig ausruhen.«
»Natürlich, entschuldige, ich plappere so vor mich hin und frage gar nicht, wie es dir geht! Gut, ich gehe jetzt, aber ich komme morgen nach der Schule wieder vorbei.«
»Bitte nicht. Ich bin auch dann zu müde.«
Emma schnappte erschrocken nach Luft. Ein Schmerz, der so heftig war, dass sie kaum atmen konnte, stach ihr in den Bauch, als sie flüsterte:
»Okay. Bis dann!«
Julia antwortete nicht, sie lag mit dem Rücken zu Emma. Die schaute sich ein letztes Mal um, ehe sie die Tür zu Julias Zimmer schloss und die Treppe hinunterlief. Gisela kam herbeigeeilt, um zu sehen, was los war.
»Willst du schon gehen?«
»Ja, ich habe vergessen, dass Annika mit dem Essen auf mich wartet.«
Gisela hob eine Augenbraue.
»So, so. Aha.«
Kaum war sie aus der Tür, da kamen Emma die Tränen.
Weinend lief sie nach Hause, durch die Dämmerung, die rasch in Dunkelheit überging.
»Hallo, Liebes! Ich bin in der Badewanne!«
Annikas Stimme war brüchig, es hallte aus dem Badezimmer. Emma hoffte, dass man ihrer Stimme nicht anhören würde, dass sie weinte.
»Okay, ich gehe in mein Zimmer!«
Annika antwortete nicht, Emma schloss die Tür und warf sich aufs Bett. Sie bohrte den Kopf in das Kissen und ließ den Tränen freien Lauf. Schluchzte, bis nur noch ein Schniefen kam. Sie weinte über ihre eigene Dummheit und über Julias eigenartige Blässe, das plötzliche Schweigen, das jetzt zwischen ihnen war. Und über ein unbegreifliches, undeutliches Gefühl, eine Irritation darüber, dass sie sich nicht einfach freuen durfte. Ein beschämender Gedanke, den sie nicht zu bremsen vermochte. Dass Julia mit ihrer hässlichen Blässe ihr kribbelndes Glück zerstörte.
Cesar wartete bei den Fahrrädern auf sie. Als sie seinen langen, schlaksigen Körper und die leicht nach vorn gebeugten Schultern sah, wurde ihr ganz warm.
»Hallo! Ich habe auf dich gewartet.«
Eine sachliche Feststellung, die einfach klang und doch schwer wog, mit allem, was sie enthielt.
Sie gingen Hand in Hand in die Schule, durch die langen Korridore mit den roten Blechspinden und den schmalen Holzbänken, auf denen die Klassenkameraden lungerten. Vicky saß auf dem Schoß von einem Pudelrocker und lächelte zweideutig. Emma lächelte zurück, an der Hand von Cesar war sie unbesiegbar.
Sie lächelte so sehr, dass sie die schweigsame Gestalt, die allein auf einer Bank saß und sie beobachtete, nicht bemerkte.
Erst als sie ins Klassenzimmer gingen, hörte sie, wie jemand ihren Namen sagte. Sie drehte
Weitere Kostenlose Bücher