Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
offensichtlich genauso überrascht wie sie.
»Du musst mir versprechen, nie wieder zu diesem Baum zu gehen. Dieser Mann scheint gefährlich zu sein. Hast du verstanden?«
Emma nickte schweigend. In der Küche, zusammen mit Annika, verstand sie selbst nicht mehr, was sie sich dabei gedacht hatten. Sie versuchte, das Gefühl von Unwirklichkeit zu erklären. Dass es wie ein Traum war, wie ein Albtraum, aber immerhin. Dass sie das Gefühl gehabt hätten, er könne sie nicht wirklich erwischen.
Annika nickte und schenkte sich noch eine Tasse Tee ein.
»Als ich klein war, sagte man immer, dass Exhibitionisten nicht gefährlich sind. Aber das stimmt nicht. Ich möchte nicht, dass du immer Angst hast, das bringt gar nichts, aber ich möchte auch, dass du dich vor Männern in Acht nimmst, die ganz offensichtlich nicht normal sind.« Annika stand auf und ging zum Kühlschrank. »Hör zu, wir müssen irgendetwas zu essen machen. Fällt dir etwas ein? Ach was, wir machen das Gleiche wie gestern, Nudeln mit Fleischklößchen.«
Sie holte die Sachen aus dem Kühlschrank und stellte einen Topf mit Wasser auf. Emma ging in ihr Zimmer und machte die Hausaufgaben. Nach dem Essen ging es etwas besser, sie und Annika hatten beschlossen, dass sie Julia für den nächsten Abend zum Essen einladen würden, damit sie mal in aller Ruhe miteinander reden konnten.
Es war schon fast elf, als das Telefon klingelte. Annika klang aufgeregt, und als sie den Hörer aufgelegt hatte und in die Küche kam, war ihr Gesicht kreideweiß.
»Es war Gisela. Julia ist nicht nach Hause gekommen, und sie wollte wissen, ob wir eine Ahnung haben, wo sie ist.»
»Sie ist bestimmt noch im Baum!«
»Sie kommen her und holen uns mit dem Auto ab, du musst ihnen den Weg zeigen.«
Carl saß im Auto und klopfte nervös auf das Steuerrad.
Seine Haare waren im Nacken perfekt geschnitten. Nicht zu lang, nicht zu kurz, alles unter Kontrolle. Um ihn eine undurchdringliche Wolke aus Rasierwasser und Schweigen. Im Schweigen ruhte alles und nichts. Die Unsicherheit, die entstand, wenn man versuchte, alles, was nicht gesagt wurde, zu deuten, war beängstigend.
Sogar Annika wurde nervös, als sie Carls strenge Miene sah, sie grüßte nur kurz und setzte sich auf den Rücksitz.
Er fuhr schweigend los, niemand schien etwas sagen zu wollen. Als sie zum Kramladen abbogen, holte Carl tief Luft.
»Was ist eigentlich zwischen dir und Julia vorgefallen?«
Sein Tonfall war herrisch, in der kontrollierten Beherrschung war ein Vorwurf.
Emma schaute die Welt vor dem Fenster an, sie war in ein bedrohliches Dunkel eingehüllt. Sie wusste, dass ihre Wangen glühten.
»Nichts. Ich weiß nicht, warum sie in letzter Zeit so böse auf mich war.«
»So, so. Nichts, sagst du also. Nichts ist passiert. Das ist sehr eigenartig, Julia ist noch nie verschwunden.«
Emma suchte Annikas Blick, aber Annika starrte nur geradeaus auf die Straße. Wieder liefen ihr die Tränen über die Wangen, aber sie traute sich nicht zu schniefen. Und wenn er recht hatte? Irgendwie war sie schuld daran, dass Julia im Baum zurückgeblieben war. Sie hatte sie verlassen, sie war einfach gegangen, ohne daran zu denken, was mit ihr geschehen würde. Sie schniefte laut, und Annika legte ihr sofort den Arm um die Schultern.
»Wir finden sie, und alles wird gut.«
Sie bogen in den Schotterweg ab. Hier gab es keine Beleuchtung, nur die Scheinwerfer des Autos. Der Wald war kohlschwarz, Emma schaute auf ihre Beine, die vor Angst zitterten.
»Hier. Da drüben ist der Baum!«
Sie zeigte in den Wald. Carl hielt das Auto an.
»Wartet, ich gehe und schaue nach.«
Sie blieben schweigend sitzen und sahen, wie Carls Gestalt im Dunkel verschwand. Plötzlich hörten sie einen verzweifelten Schrei. Emma wusste sofort, dass es Julia war. Annika riss die Tür auf und rief ins Dunkel.
»Julia! Emma und ich sind auch hier!«
Der Schrei verstummte, Carl murmelte etwas, und dann hörte man das Geräusch von Schritten, als er und Julia durch das Gebüsch kamen.
Carl schob Julia vor sich her. Als sie Annika sah, lief sie los und warf sich ihr in die Arme. Sie schluchzte krampfartig, Annika wiegte sie hin und her.
Carl hatte sich hinters Steuer gesetzt und starrte geradeaus. Schließlich öffnete er die Autotür und zischte ärgerlich.
»Es reicht jetzt. Wir wollen nach Hause!«
Annika schaute ihn voller Verachtung an, aber dann ließ sie Julia los und öffnete die Autotür.
Die Heimfahrt verlief im gleichen eigenartigen
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