Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
er seine morgendliche Routine auf, ohne sie anzuschauen. Trank eine Tasse Kaffee und blätterte die Zeitung durch. Julia und Erik waren noch in ihren Zimmern, Gisela ertappte sich dabei, dass sie sich wünschte, sie würden herunterkommen und plappern. Wenigstens Erik, Julia war ungewöhnlich schweigsam und zurückgezogen, seit sie dieses schreckliche Fieber gehabt hatte. Man sah sie morgens kaum, sie kam erst wenige Minuten, bevor sie gehen musste, dann aß sie schnell ein Brot und trank ein Glas Milch. Erik war immer noch der laute, fröhliche Junge, der er immer gewesen war. Ihr geliebter Engel, ein Cherubim mit dicken Wangen, die sie gar nicht genug küssen konnte.
Julias Fieber hatte sie sehr beunruhigt, das war schon so gewesen, als Julia mit vier Jahren den ersten Fieberkrampf hatte.
Da war es Winter, und vor dem Fenster glichen die Konturen der schwarzen Apfelbäume nackten knochigen Körpern. Gisela war hochschwanger mit Erik, der jeden Moment auf die Welt kommen konnte, Carl war auf einer Geschäftsreise, sollte erst am Abend wiederkommen. Sie war also allein mit Julia, die im Bett lag und schlief, fiebrig und verschnupft.
Sie las die Zeitung und trank eine Tasse Tee, von Kaffee war ihr die ganze Schwangerschaft über übel geworden, als sie plötzlich ein Plumpsen aus dem Schlafzimmer hörte. So schnell es ging, schleppte sie ihren schweren Körper auf geschwollenen Beinen hinüber. Julia lag auf dem Boden und verkrampfte sich in schrecklichen Spasmen, ihre Augen waren halb geöffnet. Gisela war so erschrocken, dass ihre Knie nachgaben und sie neben dem kleinen, zuckenden und krampfenden Körper auf den Boden sank.
»Julia! Julia! Mein Kleines, was ist los?«
Ihre Stimme trug kaum, die Panik drückte alle Luft aus den Lungen.
Als der Mangel an Sauerstoff Julias Lippen blaulila werden ließ, siegte der Autopilot über die Angst. Wie in Zeitlupe wankte Gisela in die Diele, und es gelang ihr, den Notarzt anzurufen. Ihre Worte kamen stoßweise, sie bekam immer noch kaum Luft.
»Meine Tochter krampft … die Lippen sind blau … ich glaube, sie stirbt … Mein Gott, sie stirbt hier auf dem Boden …«
Die Stimme am anderen Ende war ruhig und warm.
»Ganz ruhig, alles wird gut, erst einmal die Adresse, dann schicke ich sofort einen Krankenwagen.«
Irgendwie brachte sie die Adresse hervor, und schon ein paar Minuten später war der Krankenwagen da. Julia krampfte die ganze Zeit, erst als einer der Krankenpfleger ihr Stesolid verabreichte, ließen die Spasmen nach. Danach schlief Julia tief und fest, beinahe bewusstlos, erschöpft von den Krämpfen und dem Medikament.
In dem kleinen Zimmer im Krankenhaus, mit Julias fieberheißem Kopf auf dem Schoß, wurde Gisela klar, dass sie noch nie im Leben solche Angst gehabt hatte. Das war eine Erkenntnis, die sie beglückt und erschreckt hatte, dass ihr nichts so viel bedeutete wie das Leben ihres Kindes.
Es waren keine Kunden im Laden, in einer Viertelstunde würde sie schließen.
Vorsichtig nahm Gisela das Taschentuch weg, das sie gegen die Augen gedrückt hatte, und schaute sich im Spiegel an. Die Augen waren ein wenig gerötet, aber ansonsten gab es nichts, das etwas von ihrer Gefühlslage verraten hätte.
»Warum warst du nicht in der Schule?«
Emma schaute Julia, die oben im Baum saß, böse an. Sie war den ganzen Weg gelaufen und atmete heftig von der Anstrengung. Es waren drei Tage vergangen, seit Julia zuletzt in der Schule gewesen war, und nach der letzten Stunde, Mathematik bei Solveig, in der die Zahlen ihr eigenes Leben lebten, hatte Emma plötzlich gewusst, dass sie Julia finden musste.
Sie wusste, dass Julia nicht zu Hause war, denn sie hatte sie vom Telefon im Lehrerzimmer aus angerufen. Maj-Lis hatte danebengestanden, und sie hatte so getan, als würde Julia antworten. Danach hatte sie verlegen erklärt, dass Julia wieder Fieber hatte (sie hoffte, dass die roten Flecken am Hals nicht so deutlich zu sehen waren, wie sie sie spürte).
»Das ist aber ein hartnäckiges Fieber!«, hatte Maj-Lis misstrauisch festgestellt.
Es gab nur einen Ort, wo Julia sein konnte. Emma lief, sie stolperte den Waldweg entlang und sah Julia erst, als sie unter dem Baum stand. Julia saß in der Astgabel, sie hatte die Beine hochgezogen und antwortete nicht, sie zog nur den Reißverschluss ihrer Jacke auf und zu.
»Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Maj-Lis war stinksauer, als sie sah, dass du diese Woche drei Tage gefehlt hast!«
Julia schwieg immer
Weitere Kostenlose Bücher