Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
gingen sie schweigend nach Hause. Es war schon dunkel, Cesar und Emma hatten verabredet, dass sie sich um acht vor der Disco treffen würden. Emma war entschlossen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit Julia heute Abend mitkam. Irgendwann musste Schluss sein mit den Ausreden und dem Schwänzen.
Sie schielte zu Julia hinüber und überlegte fieberhaft, was sie sagen könnte, aber ihr fiel nichts ein. Alles, was in letzter Zeit passiert war, war so eigenartig. Oder eher das, was nicht passiert war. Darüber konnte man noch weniger sprechen. Sie hatten eigentlich keinen Streit. Und doch verhielt Julia sich so, als sei sie beleidigt, sagte aber nicht, warum.
Emma räusperte sich, aber Julia reagierte nicht, sondern starrte nur auf den Boden. Plötzlich spürte Emma, dass sie es nicht mehr aushielt. Sie blieb abrupt stehen. Die zurückgehaltenen Fragen quollen in einem rasenden Tempo aus ihr heraus.
»Ich werde wahnsinnig! Kannst du nicht endlich sagen, was los ist? Habe ich etwas falsch gemacht? Ich kapiere überhaupt nichts!«
Julia hob den Blick und schaute sie an.
»Nein, es ist nichts, wirklich nicht. Absolut nichts, du hast nichts getan.«
»Aber was ist es denn dann?«
Emma weinte vor Erleichterung, dass sie immerhin miteinander sprachen. Und vor Trauer, Julia fehlte ihr. Sie sah, dass Julia sich bemühte, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, aber auch ihre Augen wurden glänzend und liefen über. So war es immer gewesen, das Weinen der einen hatte immer auch das Weinen der anderen ausgelöst.
»Es ist nichts. Ich habe in letzter Zeit nur schlecht schlafen können.«
»Aber du bist doch total merkwürdig. Da muss etwas sein! Warum sagst du es mir nicht?«
Vorbeieilende Menschen starrten sie neugierig an, aber Emma scherte sich nicht darum.
Julia schluchzte und versuchte, die Tränen und den Rotz mit dem Jackenärmel abzuwischen. Sie schüttelte den Kopf, bekam jedoch nichts heraus.
»Und was war das eigentlich mit dem Baum? Warum bist du da sitzen geblieben und hast dich versteckt? Du weißt doch, dass es dort gefährlich ist!«
Julia schüttelte wieder den Kopf, sie ließ den Rotz laufen, der sich mit den Tränen vermischte.
Emma trat in einen Schneewall.
»Bitte antworte!«
»Ich weiß nicht.«
Julia schluchzte jetzt leise, Emmas Stimme wurde immer lauter.
»Wie, ich weiß nicht?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht erklären, weil ich nicht weiß, was los ist.«
Große, nasse Schneeflocken landeten auf der Schneedecke und machten sie schmutziggrau statt glitzerweiß. Sie schauten einander an, Julias Haare waren klatschnass und hingen schwer herunter, aber sie schien es nicht zu merken. Plötzlich machte sie einen Schritt auf Emma zu und umarmte sie fest.
»Entschuldige Emma! Entschuldige, wenn ich komisch war. Ich wollte dich nicht verletzen! Es hat nichts mit dir zu tun!«
Über ihnen bildeten die nackten schwarzen Zweige einen dunklen Himmel, und Emma spürte plötzlich, wie leicht es war, wie schnell das Schwere verschwand, als sei es nie da gewesen. Sie umarmte Julia auch fest, bohrte ihr Gesicht in ihren Hals. Auf einmal lachte sie laut vor Erleichterung, es klang wahnsinnig, weil es sich mit dem Weinen mischte, und Julia lachte auch.
Sie drehten sich zusammen im Kreis und lachten, bis sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten und in einen Schneewall am Straßenrand fielen. Der nasse Schnee drang durch ihre Schuhe und Jacken, Emma schrie laut, als er auf der nackten Haut schmolz. Sie nahm eine Handvoll Schnee und versuchte, ihn Julia in den Ausschnitt zu stecken. Die wehrte sich kreischend mit den Armen. In einer letzten Kraftanstrengung setzte sie sich rittlings auf Emma und hielt sie fest.
»Ergib dich!«
Julia sammelte Spucke und ließ sie drohend aus ihrem halb geöffneten Mund heraus hängen, gefährlich nahe an Emmas Gesicht.
»Ich ergebe mich! Ich ergebe mich!«
Mühsam presste sie die Worte zwischen dem Lachen hervor, ihr ganzer Körper hüpfte.
Julia stand auf und reichte Emma eine Hand, damit sie aus der Schneewehe hochkam.
»Mein Gott, ich glaube, ich habe mir in die Hose gemacht!«
Julia musste noch einmal fürchterlich lachen.
»Hör jetzt auf! Sonst mach ich mir auch noch in die Hose!«
Kurze Zeit später war alles wie immer, und sie hatten fast vergessen, wie verkrampft die Stimmung zwischen ihnen gewesen war. Sie nahmen sich bei den Händen und gingen nach Hause, federleicht durch das Kichern, das sie von jeglicher Schwerkraft befreit
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