Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
verlor Annika die Fassung, ihre Stimme wurde lauter, und sie stand auf.
»Sie hat Narben, verdammt! Dass wir ein Rechtssystem haben, das systematisch die Rechte der Kinder missachtet, indem man ihnen nicht glaubt, bedeutet doch nicht, dass es nicht passiert ist!«
Sie beugte sich drohend vor, als sie mit leiser Stimme die Worte sagte, die Julia vor Angst und Erleichterung zittern ließen.
»Ich weiß, was ich weiß. Und tief drinnen in Ihrem Männerhirn, in Ihrem verdammten Männerhirn wissen auch Sie es, da bin ich mir sicher! Auch wenn Sie inzwischen so korrumpiert sind, dass Sie kaum wissen, wo oben und unten, vorne oder hinten ist!«
Schnaubend stand er auf, und als er sich zu seiner vollen Länge aufgerichtet hatte, sicher zwanzig Zentimeter größer als Annika, gewann auch er die Fassung zurück.
»Sie machen sich völlig lächerlich, wenn Sie glauben, den Vater daran hindern zu können, das Sorgerecht über seine Kinder zu bekommen. Wenn Sie nicht mit uns zusammenarbeiten, sehen wir uns gezwungen, die Kinder von der Polizei holen zu lassen. Aber wenn man bedenkt, was diese armen Kinder schon mit ihrer Mutter durchgemacht haben, wäre es dem Vater sehr daran gelegen, dass es dieses Mal etwas zivilisierter abläuft.«
Er zog sich den Mantel an und legte sich den exklusiven roten Schal um.
»Also, bringen Sie die Kinder am Montag?«
Annika sank plötzlich in sich zusammen und schaute ihn bittend an.
»Erik können Sie vielleicht nehmen, aber Julia ist dreizehn und weigert sich, wieder zu Carl zu ziehen. Ich glaube nicht, dass ich auf sie einwirken kann, sich anders zu entscheiden. Zumal ich ihrer Meinung bin. Es wäre geradezu lebensgefährlich, sie zu zwingen, wieder bei diesem Mann zu leben!«
Als er gegangen war, zündete sich Annika eine Zigarette an und rauchte gierig, dabei starrte sie aus dem Fenster. Julia kam in die Küche und setzte sich an den Tisch.
»Hast du gehört, was er gesagt hat?«
Annika wandte sich vom Fenster ab und schaute Julia an.
»Ich werde nicht wieder nach Hause ziehen. Niemals! Eher haue ich ab oder bring mich um!«
»Ja, ich weiß. Aber ich glaube, es gibt eine kleine Chance. Du bist alt genug, ich muss das noch mal mit einer Freundin diskutieren, sie ist Sozialarbeiterin. Sie kennt sich aus. Allerdings fürchte ich, dass Erik zu ihm zurück muss.«
Julia holte tief Luft und seufzte erleichtert, als es funktionierte. Allmählich bekam das Zimmer wieder seine Proportionen. Die Konturen wurden zu Möbeln. Emmas Schreibtisch, der Stuhl, das Bett, in dem sie lag.
Sie flüsterte immer wieder die Sätze, die ihr halfen, heil in die Welt zurückzukehren.
»Ich bin hier. Hier ist jetzt. Ich bin hier, nicht dort. Ich bin …«
Sie zitterte, als ein Schauder ihren Körper durchlief. Sie war. Vielleicht. Aber nicht sicher. Dass sie war. Ob sie war. Konnte man nicht wissen.
Vor dem Fenster wich die dunkelblaue Schwere des Nachthimmels einer helleren Färbung. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, Julia versuchte, ruhig zu atmen, was ihr sofort misslang. Sie wusste, was für ein Tag heute war. Heute würde es passieren. Was nicht passieren dürfte. Sie hatte nicht die Absicht, zu Carl nach Hause zurückzukehren.
Seit Gisela wegen Brandstiftung in Untersuchungshaft saß, lebten sie in einem anderen Orbit. Niemand wusste, wie es weitergehen würde, und obwohl Annika sich sehr bemühte, eine alltägliche Ruhe und Geborgenheit zu vermitteln, verrieten sie doch ihre Unruhe und die schrille Stimme. Die dunklen Ringe unter den Augen und die Falten, die immer tiefer wurden, waren eine Erinnerung an das, was passiert war. Am Abend zuvor, als Julia zur Toilette musste, hatte sie Annika im Sessel gesehen, die über Kopfhörer Musik hörte, den Blick weit in die Ferne gerichtet. Was ihr durch Mark und Bein ging, war die leere Rotweinflasche, die neben ihr auf dem Tisch stand.
Julia wusste, dass Annika gern Rotwein trank. Sie hatte fast immer ein Glas in der Hand, ob sie kochte oder vor dem Fernseher saß oder konzentriert ein Buch las. Aber dieses Mal war das Trinken anders, so hatte sie Annika noch nie gesehen, abwesend, mit leerem Blick und zusammengekniffenem Mund.
Wie sollte sie jemals all das, was passiert war, in ihrem Kopf geordnet bekommen? Der Gedanke, dass das gegenwärtige Chaos immer so weitergehen würde, machte ihr Angst. Wie konnte jemand, am allerwenigsten sie selbst, dem ein Ende bereiten?
Die Weihnachtstage mit der verräterischen Hoffnung, dass das Leben doch
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