Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
lebenswert war. Die dann wieder verschwand, genauso plötzlich, wie sie gekommen war.
Alles war nichts, alles konnte geschehen, und nichts. Eines wusste sie sicher, Carl würde sie nie, nie wieder bekommen. Nie wieder würde sie mit ihm leben. Wie sehr er auch schrie und mit seinen Rechten drohte und dem Geschwätz, dass er das Sorgerecht hatte. Ihr biologischer Vater war. Ihr einziger Vater. Wie sein Anwalt Gustav Cederström erklärt hatte.
Julia drehte sich im Bett um, das Gesicht zum Fenster. Die letzten Reste Dunkelheit waren verschwunden, der Himmel war blau.
»Ein neuer Tag mit neuen Möglichkeiten!«
Das sagte Gisela manchmal, wenn sie morgens zum Wecken kam. Keck und munter, schon damals hatte es aufgesetzt geklungen, vor allem damals.
Wenn sie daran dachte, wie Gisela sich Mühe gegeben hatte, ein bisschen Freude in ihrer traurigen Familie zu erzeugen, spürte sie einen Stich im Bauch. Alle ihre Versuche mit besonders schön gedecktem Tisch, Kerzen und Essen, das Carl besonders gern mochte. Wie sie lächelte, um zu zeigen, dass alles prima war, obwohl im ganzen Haus ein eisiges Schweigen herrschte. Wie es ihr meistens nicht gelang und sie schwieg oder Julia ärgerlich anschnauzte. Heute erkannte sie darin vor allem tapfere Versuche.
Draußen glitzerte der Neuschnee, schön und böse. Teilte mit, dass es kalt war. Aber das machte nichts, keine Kälte der Welt konnte Julia hindern. Sie hatte sich entschieden.
Annika tastete nach dem Wasserglas und trank gierig einige Schlucke. Das Morgenlicht, das hereinschien, war so grell, dass sie blinzeln musste. Sie hatte starke Kopfschmerzen und suchte die Schmerztabletten in der Nachttischschublade.
Emma sah, wie ihre Mutter das Gesicht verzog, und schloss daraus, dass es gestern spät geworden war und sie wahrscheinlich mindestens zwei leere Rotweinflaschen im Wohnzimmer oder der Küche finden würde. In letzter Zeit hatten die Abende häufig so geendet, und sie wollte gar nicht darüber nachdenken, was das bedeutete.
Vor dem Fenster freuten sich zwei Dompfaffen über das Vogelhäuschen, das sie auf dem Balkon aufgehängt hatten. Vielleicht waren sie ein Paar, sie fraßen oft zusammen.
Es war Montag, heute sollten die Kinder ihrem rechtmäßigen Zuhause zugeführt werden, ihrem rechtmäßigen Vater.
Automatisch sagte sie die Worte, die sie jetzt immer still vor sich hin sagte, wenn sie an Carl dachte. Das eklige Schwein. Das verfluchte, widerwärtige, feige Arschloch!
Er hatte sich die ganze Zeit zurückgehalten, immer nur diesen schleimigen Anwalt geschickt. Sie wusste, dass er sich schämte. Unter dem ach so wohlgeordneten Äußeren schämte er sich wie ein Hund, er wusste genau, was er getan hatte. Aber natürlich musste er so tun, als wäre er wirklich ein guter Vater, der liebevolle Papa, der seine entführten Kinder zurückhaben wollte.
Aus dem Badezimmer hörte Emma, dass Annika Geschirr spülte, und kurz darauf drang der Duft von frischem Kaffee ins Schlafzimmer.
In der Wohnung war es still, Emma ging leise in die Küche und half Annika, das Frühstück zu richten. Als Annika sie sah, versuchte sie zu lächeln.
»Hallo, mein Schatz, gut geschlafen?«
»Geht so.«
»Ich auch. Habe so schreckliche Kopfschmerzen.«
Die Hand, mit der sie zwei Brotscheiben in den Toaster schob, zitterte leicht. Emma holte Butter und Käse aus dem Kühlschrank und spürte plötzlich etwas in der Luft. Etwas Stilles. Der Käse war schimmelig, aber das war nicht der Grund, warum ihr Herz so heftig schlug, als ob es wüsste, dass etwas nicht stimmte, lange bevor sie es sah.
Instinktiv ging sie in das Zimmer, wo Julia und Erik schliefen, und als sie sah, dass Julia nicht da war, war sie erschrocken und froh zugleich.
Auf dem Kissen lag ein Zettel, ein Brief.
Ich muss abhauen, weil ich ihn nie, nie wiedersehen will. Er ist ein Teufel, und ich hasse ihn! Ich werde nicht zulassen, dass er mir weiterhin wehtut.
Verzeih mir, Erik, dass ich dich im Stich lasse, aber ich glaube, zu dir ist er nicht so gemein.
Julia
Emma las den Brief immer wieder, ihr Herz schlug aufgeregt, und als sie Annika den Brief gab, sah sie, dass auch die Gefühle ihrer Mutter in Aufruhr waren, widersprüchlich und heftig.
Annika setzte sich und zündete sich eine Zigarette an, Emma blieb stehen und dachte über den Inhalt des Briefs nach. Ein ungestümer Stolz über Julias Mut und Stärke vertrieb die Angst.
Über ihren Lebenswillen, denn das war es doch? Ein Akt des Widerstands. Ein Akt des
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