Hahn, Nikola
gingen, um Vicki abzuholen.
»Was
war das für eine Sendung?« fragte er verstimmt.
»Eine
Grußkarte.«
»Und
was stand darauf?«
»Bitte,
Richard! Du hast nicht den geringsten Grund, mir zu mißtrauen.«
»Er
sagte: Sendung. Nicht Karte. Was hat er dir geschickt?«
»Einen
Kristall!« sagte sie verärgert. »Weil wir uns darüber
unterhalten
hatten, und zwar ohne jede hintergründige Absicht. Wenn du mir nicht glaubst,
frag Flora. Sie war dabei.«
»Das
geht postwendend zurück.«
»Es ist
ein persönliches Geschenk, und ich lasse mir von dir nicht vorschreiben, ob ich
es annehme oder nicht!«
Richard
winkte Vicki von der Tanzfläche. Ihr gefiel es gar nicht, daß sie nach Hause
mußte, aber Richard duldete keinen Widerspruch. Vickis Miene war anzusehen, daß
sie ihrer Mutter die Schuld an dem verdorbenen Abend gab. Die Rückfahrt
verlief so schweigend wie die Hinfahrt. Sobald sie im Haus waren, verschwand
Vicki nach oben.
Louise
gab Richard einen Brief. Er riß ihn auf und las. »Eine Nachricht von Braun. Ich
muß noch mal weg.« Er steckte das Schreiben ein und ging.
Victoria
hätte am liebsten geweint. »Bringe mir bitte einen Tee in die Bibliothek«,
sagte sie zu Louise.
»Sie
wollen noch lesen?« fragte die Zofe erstaunt.
»Nein. Nachdenken.
Ich glaube, es ist die rechte Zeit dazu.«
Kapitel
15
Abendblatt Samstag, 5. März 1904
Frankfurter
Zeitung und Handelsblatt
Der
Raubmord auf der Zeil. Der Polizeibericht
schreibt heute: »In der Raubmordsache Lichtenstein werden alle diejenigen
Personen, die den Möbelträger Oskar Bruno Groß bis zum Moment seiner Festnahme
irgendwo gesehen haben, ersucht, sich sofort auf dem Polizeipräsidium zu
melden.«
Gordon-Bennett-Preise. In der in Berlin erscheinenden »Automobilwelt«,
einer illustrierten Zeitschrift für die Interessen des Automobilwesens, wird
andauernd ein heftiger Kampf gegen die »Gordon-Bennett-Preise« der Homburger
und Frankfurter Hoteliers geführt. Die »Automobilwelt« meint, »daß das
Gordon-Bennett-Rennen in Frankfurt a. M. mit einem großen Rupf gefeiert werden
soll« und wiederholt ihre Mahnung, »Frankfurt a. M. während der
Gordon-Bennett-Woche möglichst zu meiden, und wenn nicht anders, den
Aufenthalt dort nach Möglichkeit abzukürzen, sowie dort keine Einkäufe zu
machen.« Das schießt doch weit übers Ziel hinaus, das ist ja die reinste
Boykotterklärung.
W as gibt es denn Wichtiges zu berichten, daß Sie mich zu
nachtschlafender Zeit zu sich beordern?« fragte Richard, als Heiner ihm
öffnete.
»Morgen
wäre es noch früh genug gewesen, Herr Kommissar.«
»Erzählen
Sie mir nichts! Wenn Sie bitte baldmöglichst schreiben, weiß ich, was
ich davon zu halten habe, Braun.«
Er
lächelte, aber Richard sah, daß ihm nicht danach war. »So
feierlich,
daß Sie im Frack erscheinen müssen, ist mein Bericht allerdings nicht.«
»Ich
komme gerade von einem Abendessen bei meiner Schwägerin.«
»Ach
ja, Gräfin von Tennitz' Geburtstagsdiner. Fräulein Rothe ist auch eingeladen.
Sie war ganz aufgeregt.«
Richard
legte ab, und sie gingen in die Küche. Heiner deutete zum Herd.
»Möchten
Sie einen Kaffee? Frisch gekocht.«
»Nein.
Raus mit der Sprache!«
Heiner
holte ein mit Bleistift beschriebenes Blatt Papier aus der Tischschublade. Es
war schmuddelig und an einer Seite eingerissen. »Das habe ich nach dem
Abendessen unter meiner Haustür gefunden.«
Richard
studierte die Nachricht, ohne Punkt und Komma aneinandergesetzte Wörter, die
voller Fehler waren: Fritz kahn unfal net Man is dochsror fom schtingtämche
Bockem biss Pokonni. »Die Sache mit Fritz Wennecke bei Pokorny &
Wittekind war kein Unfall. Nun gut, das ist keine allzu neue Erkenntnis.
Könnten Sie mir für den Rest eine Übersetzung anbieten?«
»Bockem ist die mundartliche Bezeichnung für
Bockenheim«, sagte Heiner. »Aber Dochsror? Schtingtämche? Tut mit leid,
da muß ich passen. Was ich daraus lese, ist, daß ein Mann von Bockenheim bis zu
Pokorny & Wittekind gelangt ist. Da sich das Betriebsgelände von Pokorny
jedoch in Bockenheim befindet, ist es wohl so zu deuten, daß die besagte
Person von irgendeiner Ecke in Bockenheim aus ins Industriegebiet an der
Kreuznacher Straße gegangen ist.«
»Das
ist nicht verboten, oder? Im Ernst: Was ist an diesem Wisch so bemerkenswert,
außer der Tatsache, daß ein Analphabet Buchstabensortieren geübt hat?«
»Die
Rückseite, Herr Kommissar.«
Richard
drehte den Zettel. Man sah den Ziffern
Weitere Kostenlose Bücher