Hahn, Nikola
hinaufzuklettern«, sagte Laura.
Victoria
schüttelte lächelnd den Kopf. »Eine Kanalratte dürfte wohl eher im Keller
gehaust haben.«
Sie fanden
den Zugang am anderen Ende des Wendelgangs. In einer Ecke des feuchten Raums
hatte jemand aus Zeitungen und einer mottenzerfressenen Decke eine primitive
Lagerstatt errichtet. Der Abstieg in den Kanal lag nicht weit entfernt. Eine
Maus saß davor und knabberte an einer schimmeligen Brotkante. Als Victoria
näherkam, verschwand sie in der Wand.
Laura
leerte einen Leinenbeutel aus und förderte stinkende Socken, ein zerlöchertes
Unterhemd, eine leere Schnapsflasche und eine Schachtel Zündhölzer zutage. Victoria
sah die Zeitungen durch. »Seltsam.«
»Was
denn?« fragte Laura.
Victoria
zeigte auf angestrichene Annoncen. »Der wollte doch sicher kein Kind
adoptieren, in seiner Lage?«
Laura
sah sich kopfschüttelnd die Anzeigen an und tastete
eine alte
Jacke ab. Wenn sie sich nicht sehr täuschte, war es die gleiche, die Comoretto
in der Kornblumengasse getragen hatte. In der Innentasche steckte ein
Briefumschlag. Er war schmutzig und zerknittert, aber aus feinstem
Büttenpapier. Z. Hd. Hr. Comoretto, stand in geschwungener Schrift
darauf. »Das beweist, daß wir richtig sind«, sagte Laura. Victoria betrachtete
das Kuvert, überlegte kurz und leuchtete die Wand ab.
»Was
tun Sie da?« wollte Laura wissen.
»Den
Inhalt des Briefes suchen. Und wenn ich mich nicht sehr täusche, habe ich ihn
schon gefunden.« Sie gab Laura die Kerze und zog einen losen Stein aus der
Mauer. »Die Leute sind im allgemeinen nicht sehr kreativ, wenn sie etwas
verstecken.« Sie holte einen schmuddeligen Lappen aus der Wand und schlug ihn
auseinander.
»Das
gibt's ja nicht!« rief Laura. Auch Victoria konnte ihre Verblüffung nicht
verhehlen. In dem Lumpen steckte ein Bündel Geld. Sie zählten
neunhundertsiebzig Mark.
»Schweigegeld
oder Verbrecherlohn«, sagte Victoria.
»Fragt
sich nur, wofür«, ergänzte Laura.
Victoria
nahm das Buch aus dem Korb und blätterte darin. »Das werden wir auch noch
herausfinden. Schauen Sie, hier sind die Verzeichnisse der einzelnen
Kanalröhren.«
»Sie
wollen doch nicht etwa da hinunter?«
»Was
Herr Heynel und dieser Comoretto können, werden wir auch hinkriegen, oder?« Sie
öffnete das Kleiderbündel. »Bedienen Sie sich.«
Laura
war fassungslos. »Sie hatten das von Anfang an geplant.«
Victoria
knöpfte schmunzelnd ihr Kleid auf. »Aber sicher! Oder was dachten Sie, wozu wir
den ganzen Kram durch die Gegend getragen haben?«
»Und
wenn uns jemand unsere Sachen stiehlt?«
»Dann
haben wir Pech gehabt.« Victoria legte ihr Kleid zusammen, zog eine Hose und
ein Hemd an und steckte das Geld ein. Sie riß zwei Seiten aus dem Buch und gab
Laura eine Kerze. Den Korb stellte sie in die dunkelste Ecke und breitete
ein
paar Zeitungen darüber. Zum ersten Mal sah Laura sie mit einem
Gesichtsausdruck, der tiefe Befriedigung ausdrückte.
Der
Einstiegsschacht endete in einem Rohrgang, in dessen Mitte eine
schwarzglänzende Brühe stand. Von der Decke tropfte Wasser. Es stank nach
Fäkalien, aber Victoria Biddling schien es nicht zu merken. An jeder
Rohrmündung blieb sie stehen und studierte die Karte. Sie bogen nach rechts,
dann nach links ab und standen unvermittelt in einer unterirdischen Halle. Mit
ihren gemauerten Rundbögen wirkte sie wie eine Geisterkathedrale, durch deren
Schiff ein schwarzer Bach floß. Im Licht der Kerzen tanzten Schatten an der
Wand. Die Bögen sahen kunstvoll aus, aber Laura hatte keinen Blick dafür. Eine
Ratte schwamm durch die übelriechende Brühe, und sie wollte lieber nicht
darüber nachdenken, wie viele sich noch hier herumtummeln mochten. Es gruselte
sie, aber sie traute sich nicht, etwas zu sagen. Langsam verstand sie, warum
Heiner Braun Victoria Biddling bewunderte.
Victoria
hielt ihre Kerze über die Buchseiten und zeigte auf einen Punkt westlich der
Bahnlinie »Wenn ich das richtig sehe, sind wir jetzt unter der Kreuznacher
Straße. Sollte es einen Zugang zu Pokorny geben, muß er irgendwo hier beginnen.«
Sie
gingen mehrere Seitenkanäle ab und stießen schließlich auf ein mannshohes Rohr,
das in einem Schacht endete. Eisenstufen führten nach oben. Victoria kletterte
hinauf und rief nach Laura. »Ich schaffe es nicht allein, den Deckel zu heben!«
Mit
vereinten Kräften stemmten sie ihn beiseite. Sie sahen einen von hohen Mauern
umgebenen Hof, der verlassen in der Dämmerung lag. Etwas entfernt
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