Hahn, Nikola
ließ Beck alle Beamten zu sich
rufen, die am Auffindeort von Kommissar Biddlings Leiche gewesen waren. Keiner
von ihnen hatte irgendeinem Stein Beachtung geschenkt.
Fünf
Tage nach dem Gespräch im Rapunzelgäßchen meldeten sich aufgrund einer
Veröffentlichung in der örtlichen Presse zwei Zeugen, die am Tag des
Gordon-Bennett-Rennens beobachtet hatten, wie ein Mann eine Frau aus einem
Seiteneingang des Polizeipräsidiums hinausließ. Eine Identifizierung der
Personen war den Zeugen jedoch nicht möglich, da sie dem Vorkommnis keine
Bedeutung beigemessen hatten.
Auf
entsprechende Nachfrage gab der Hausmeister des Polizeipräsidiums zu
Protokoll, daß er Kriminaloberwachtmeister Heynel am Tag des
Gordon-Bennett-Rennens dabei überrascht habe, als er sich am zentralen
Schlüsselkasten zu schaffen machte. Als Begründung habe Heynel angegeben, einen
Büroschlüssel gefunden und zurückgebracht zu haben. An dem fraglichen
Schlüssel fanden sich Fragmente mehrerer Fingerabdrücke, aber kein einziges
Merkmal paßte auf Oberwachtmeister Heynel. Am Schaft des Schlüssels zu einem
der Seiteneingänge sicherte Dr. Popp einen Teilabdruck von Heynes rechtem
Daumen.
In den
folgenden beiden Tagen vernahm Kommissar Beck Lotte Heynel, Frau Waldhaus aus
der Kornblumengasse und mehrere Dirnen aus der Rosengasse. Er stattete der
Apothekerin Amelia Stocker einen Besuch ab und fertigte eine Niederschrift
über die Anhörung des Kindes Maximilian Wennecke. Bei der anschließenden
Durchsuchung von Elfriede Wenneckes Wohnung wurden in einer Wäschetruhe
dreihundert Mark aufgefunden und sichergestellt. Nach einem zweistündigen
Verhör gestand Elfriede Wennecke, Oberwachtmeister Heynel mehrfach um kleinere
Geldbeträge und zuletzt um zweitausend Mark
erpreßt
zu haben, indem sie der Wahrheit zuwider behauptete, Beweise für die Morde an
ihrem Mann und dem Italiener Romano Comoretto zu haben.
Im
Anschluß an das Verhör schrieb Kriminalkommissar Peter Beck einen umfassenden
Bericht, den er am 13. September unter Mißachtung des Dienstweges direkt an
den Polizeipräsidenten sandte.
Am 14.
September forderte der Polizeipräsident Polizeirat Franck auf, ihm die
Niederschriften von Laura Rothe und Paul Heusohn vorzulegen. Am 15. September,
elf Tage nach der Unterredung zwischen Kommissar Beck und Wachtmeister i. R.
Braun, wurden Polizeiwachtmeister Walter Kröpplin, Kriminaloberwachtmeister
Martin Heynel und Kriminalkommissar Paul von Lieben mit sofortiger Wirkung
suspendiert. Mit Beschluß vom gleichen Tag entsprach der Richter am Amtsgericht
dem Antrag des Ersten Staatsanwalts auf Untersuchungshaftbefehl gegen
Oberwachtmeister Heynel wegen des dringenden Verdachts, den Arbeiter Fritz
Wennecke, den Arbeiter Romano Comoretto und Kriminalkommissar Richard Biddling
getötet zu haben.
Der
Haftgrund ergab sich aus der Schwere der Tat, die Fluchtgefahr bedurfte keiner
Begründung. Tatsächlich hatte der Beschuldigte bereits Vorbereitungen
getroffen, die Stadt zu verlassen. In seiner Wohnung wurden gepackte Koffer
gefunden und erhebliche Barmittel beschlagnahmt. Im Kamin lagen nicht vollständig
verbrannte Papierreste, bei denen es sich offenbar um die aus Biddlings Büro
verschwundenen Briefe sowie Aufzeichnungen über den Fall Wennecke handelte.
Ermittlungen im Centralbahnhof ergaben, daß dort ein Billet zweiter Klasse auf
den Namen M. Heynel nach Hamburg hinterlegt war. Der Beschuldigte leistete bei
seiner Festnahme keinen Widerstand. Den Tatvorwurf bestritt er in allen
Punkten.
Die
Exhumierung aller drei Leichen wurde angeordnet.
Am 16. September heirateten Victoria »Vicki« Therese
Biddling und Andreas Cornelius Hortacker. Auf
Wunsch des Brautpaares und in Anbetracht des Trauerjahres wurde auf jedwede
Festlichkeit verzichtet.
Am
Nachmittag des 17. September, drei Monate nach dem Tod ihres Mannes, erhielt
Victoria Biddling eine Grußkarte aus London und einen in Druckbuchstaben
geschriebenen Brief ohne Absenderangabe.
Verehrteste
Victoria!
London
ist eine Stadt, die mich immer wieder fasziniert.
Gestern
war ich in der Baker Street 221B. Ich dachte mit
Vergnügen
an die interessanten Gespräche, die wir über den
klügsten
Detektiv der Welt führten. Ich hoffe, Ihnen geht es gut.
Mit
herzlichsten Grüßen
Karl
Hopf und Gattin Christine
Victoria
Biddling - persönlich -Untermainkai 18
Irrtum
ist Farbe, Wahrheit Licht. Geibel. Sprüche eins.
Kapitel
30
Drittes Morgenblatt
Sonntag, 9. Oktober 1904
Frankfurter
Zeitung
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