Halbe Leichen (Ein Lisa Becker Krimi) (German Edition)
gemacht als Verteidiger von RAF-Terroristen, als Rechtsbeistand für Opfer von Brandanschlägen, ganz gleich welcher Religion, und als Rechtsexperte für diverse Menschenrechtsgruppen. Mehrmals war er nach Karlsruhe gezogen, um die Rechtssprechung in Deutschland entscheidend zu verändern. Er hatte einen Ruf wie Donnerhall. Aber all das nahm ein abruptes Ende, als er vor einem halben Jahr Besuch von der Polizei erhalten hatte.
Christiane hatte Lisa davon erzählt, auch wenn sie nicht direkt in den Fall eingebunden gewesen war. Es ging um einen Serien-Vergewaltiger. Der Täter war immer maskiert, aber es schien sich jedes Mal um einen Mann um die sechzig zu handeln, der einen „merkwürdigen“ Akzent sprach, den keins der Opfer so recht einzuordnen wusste. Der Täter schlug meistens nachts zu, auf Parkplätzen oder in Tiefgaragen von Bürogebäuden, manchmal aber auch in Parks. Vor einem halben Jahr hatte die Sonderkommission, die auf den Fall angesetzt war, auch David Weinstein aufgesucht. Weinstein kannte das Opfer und passte oberflächlich auf die Beschreibung. Er war 64 und hatte immer noch seinen leichten jiddischen Akzent, den er liebevoll pflegte, auch wenn er ihn im Gerichtssaal meistens unterdrückte. Er wollte sich keinen moralischen Vorteil dadurch verschaffen, dass er Jude war.
Es war reine Routine, zumal das Opfer klargestellt hatte, dass sie ihn nicht für den Täter hielt, die Stimme sei einfach anders gewesen. Aber Stimmen konnte man verstellen, und sonst gab es einfach keine Spur, also traf man sich mit Weinstein zu einer informellen Befragung. Charlie Sander bekam davon Wind und platzierte am nächsten Tag ein großes Bild von Weinstein, zusammen mit der Schlagzeile „Ist er der Sex-Gangster?“
Was Sander – und natürlich auch Lobsang – dazu getrieben hatte, die Jagd auf Weinstein zu eröffnen, war unklar. Vermutlich war es blinde Rache. Weinstein hatte häufig gegen den Volksmund Klagen angestrengt wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten und anderen Vergehen gegen die guten Sitten. Er hatte immer gewonnen. Außerdem war er als Edel-Linker und liberaler Verfechter von Freiheit und Gleichheit ein natürlicher Feind des Volksmunds. Und dass er Jude war, passte wohl auch ins Programm.
Der Druck auf das LKA nahm zu. Es gab keinerlei belastende Indizien gegen Weinstein. Für die meisten Taten konnte er unerschütterliche Alibis vorweisen. Für einige allerdings nicht, und Sander fand im Alleingang heraus, dass er auch ein weiteres der insgesamt dreißig Opfer persönlich gekannt hatte. Das war natürlich wieder eine Schlagzeile wert, und das LKA erwirkte unter dem Druck der Öffentlichkeit einen Haftbefehl. Für zwei Tage kam der Anwalt in Untersuchungshaft. Den ermittelnden Beamten war es furchtbar peinlich, und sie behandelten ihn so zuvorkommend wie möglich. Weinstein reagierte dergestalt, dass er nichts mehr sagte. Er verfiel in dumpfes Schweigen, und auch sein Sohn Richard, der ebenfalls Anwalt war, konnte ihn nicht aus seiner Lethargie befreien. Leichter war es, ihn aus seinem Gefängnis zu befreien, denn in der Nacht, in der er eingesperrt war, fand eine weitere Vergewaltigung durch den gesuchten Täter statt.
Weinstein wurde entlassen, aber nicht entlastet. Die Polizei entschuldigte sich höflich, aber der alte Mann reagierte schon gar nicht mehr. Sein Sohn brachte ihn nach Hause und kümmerte sich um ihn, was unter anderem bedeutete, dass er die Fensterscheiben am Haus seines Vaters reparieren ließ, die zuvor vom Pöbel eingeschmissen worden waren. Weinsteins Frau sagte, darunter seien auch ein paar ihrer Nachbarn gewesen. Auch nicht so schön waren die Klienten, die nicht mehr von Weinstein vertreten werden wollten. Die Familie hatte jedoch die Hoffnung, dass alles wieder in Ordnung käme, sobald dieselben Medien, von denen sie attackiert worden waren, die Nachricht von Weinsteins Unschuld verbreiten würden.
„ Machen wir nicht“, erklärte Lobsang den Kommissaren, „das erweckt nur den Eindruck, als würden wir nicht die Wahrheit schreiben.“
„ Tun Sie ja auch nicht!“
„ Frau... ähh...“
„ Becker.“
„ Frau Becker, wir sind nicht vollkommen. Wir haben das recht, Fehler zu machen, so wie Sie auch.“
„ Der Unterschied ist nur: Wenn Sie etwas falsch machen, gibt es niemanden, der Sie öffentlich an den Pranger stellt. Sie können sich im Grunde jede Schweinerei leisten, es gibt kaum Konsequenzen, höchstens die regelmäßigen Rügen vom Presserat, für
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