Halbgeist: Roman
mit allem und jedem verschmelzen. Wenn irgendjemand mies gelaunt aufwachte, wollte sie den Therapeuten spielen. Erhielt jemand schlechte Nachrichten von zu Hause, gab sie die Beichtmutter. Wollte jemand ungestört sein, hielt sie sich für die Ausnahme, die so oder so nicht stören konnte. Sie wollte in jedermanns Haut kriechen. Ständig.«
»Ist sie Ihnen vielleicht unter die Haut gegangen, Mr. Gibb?«
»Geringfügig. Ich mochte sie, hatte Spaß mit ihr, habe ihr aber keine dunklen Geheimnisse offenbart. Mir hat nicht gefallen, wie sie danach ständig versucht hat, mein ganzes Leben zu erkunden. Das hat mir den Eindruck vermittelt, Sex wäre in ihren Augen nur ein Werkzeug, um emotionale Schlösser zu knacken.« Als er darüber nachdachte und für einen kurzen Moment die Vergangenheit erneut durchlebte, entfuhr ihm bei der Erinnerung ein unwillkürliches »Ts-ts-ts«. »Sie hat ihn jedenfalls oft genug benutzt. Ich glaube, sie hat sich jedem Mann und jeder Frau auf diesem Außenposten angeboten. Ich weiß, dass sie hinter Ihren Freunden, den einstimmigen Zwillingen, her war, so viel steht fest. Und eine Weile war sie auch mit D'Onofrio zusammen. Mit Lastogne auch, aber das müssten Sie längst wissen.«
Verblüfft in Anbetracht von Warmuth und Lastogne fiel meine Antwort, die eigentlich kalt, abgehackt und unbarmherzig hätte klingen sollen, etwas milder aus. »Sie wissen, wie Mordermittler die Ex-Liebhaber nennen, die über die tote Frau sagen, sie wäre durch sämtliche Betten gezogen?«
»Ich kann's mir denken.«
»Den Hauptverdächtigen.«
Er sandte Wogen ungerechtfertigten Ärgers aus. »Hätte ich sie umbringen wollen, dann hätte ich kein Interesse daran gehabt, sie ans Kreuz zu schlagen und damit erst recht Aufmerksamkeit zu wecken. In diesem Habitat hätte ich weiter nichts tun müssen, als sie von irgendeiner Stelle herunterzustoßen und die Sache als Unfall darzustellen.«
»Was bequemerweise dem nahe kommt, was Santiago widerfahren ist.«
Er seufzte. »Aber niemand wird je behaupten, ich hätte mit Santiago geschlafen.«
»Warum nicht?«
Seine Ermattung war nicht länger die Fassade eines Mannes, der entschlossen war, sich selbst als bedauernswertes Opfer einer ganzen Reihe ungerechtfertigter Anschuldigungen darzustellen, sondern Ausdruck der tiefen dauerhaften Erschöpfung einer Person, die sich allem gestellt hatte, was sie nur aushalten konnte. »Falls Sie ermittelt haben, was für ein Mensch Warmuth war, dann wissen Sie auch, wie Santiago war. Sie war wütend, misstrauisch, abgeschottet, paranoid, beinahe unmenschlich in ihrer zwanghaften Art, alle anderen zurückzuweisen. Kurz gesagt, sie hatte eine Menge Ähnlichkeit mit Ihnen - und war beinahe das Gegenteil der armen Cynthia. Glauben Sie mir, ich wollte sie so wenig wie sie mich. Und Sie werden auf der ganzen Station keine Menschenseele finden, die etwas anderes über sie zu sagen hätte.«
Was ebenfalls richtig war. »Die meisten Leute, mit denen ich gesprochen habe, stimmen damit überein. Sie sagen, sie hätte nichts mit Ihnen zu tun haben wollen.«
»Schön.« Gibb wirkte so müde wie nie zuvor. »Ich muss nicht von jeder Frau geliebt werden, mit der ich es zu tun habe. Ich kann damit leben, von einigen abgelehnt zu werden.«
»Richtig. Und es ist auch richtig, dass ich nicht glaube, dass Sie irgendetwas mit den Sabotageakten auf dieser Station zu tun hatten.« Und dann atmete ich tief durch und bohrte weiter. »Aber dadurch, dass sie sich nicht mit Ihnen eingelassen hat, hat Santiago uns eine berufsbezogene Basis geliefert, die wunderbar dazu geeignet ist, die Leistungsbewertungen der anderen weiblichen Dienstverpflichteten unter Ihrer Aufsicht zu beurteilen.«
Gibb richtete sich auf. Seine Augen blickten so wachsam wie die eines Tieres, das spürte, dass ein Raubtier in den Wald eingedrungen war. »Was?«
»Als ich das Muster erst erkannt hatte, brauchte ich nur wenige Minuten, um eine Hytexananalyse durchzuführen, in deren Verlauf die Namen mehrerer Frauen isoliert wurden, deren Leistungsbewertung jegliches vernünftige Maß bezüglich ihrer beruflichen Fertigkeiten gesprengt hat. Warmuth war dabei lediglich diejenige, die am meisten auffiel. Sie haben ihr eine ganze Anzahl von beachtlichen Zeitboni zukommen lassen, als sie noch nicht lange hier war - noch bevor sie überhaupt ihre Vorort-Ausbildung abgeschlossen und ihre erste verhängnisvolle Nacht mit den Brachiatoren erlebt hat. Das hat mich beschäftigt, seit ich das
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