Hale 2 Freibeuter des Herzens
Wachposten ging voraus und hielt die Laterne hoch, damit sie den Weg sehen konnten.
»Jon, o Jon, Liebling«, schluchzte Cathy innerlich, als sie an Harolds Seite den Gang entlang stolperte. Dann, kurz bevor sie um die Ecke gingen, die sie für immer von Jon fortbringen würde, brach sie völlig zusammen. Hinter ihr ertönte aus der Schwärze des Kerkers der heisere Schrei eines Mannes in unaussprechlichem Schmerz.
Kapitel 4
Jon wälzte sich auf der langen, hölzernen Planke hin und her und fuhr sich mit seiner geschwollenen Zunge über die ausgetrockneten, eingerissenen Lippen. Im Laderaum der Cristobel war es heiß wie in einem Ofen; die Gefangenen waren hier wie die Sardinen zusammengepfercht. Es mußten mehr als zweihundert sein, alle männlich, zumindest hier, in diesem Teil des Schiffes. Sie lagen auf der Seite, an die Planken angekettet, die so dicht übereinander angebracht waren, daß Jons breite Schultern fast die nächste über ihm berührten. Die Eisen mit jeweils einem kurzen Stück Kette dazwischen, hatten die Haut an seinen Hand- und Fußgelenken blutig gerissen; als weitere Sicherheitsmaßnahme hatte man eine Kette um seine Hüfte und die seines Nachbarn gelegt, daß sie aneinander gefesselt waren. Er hatte ihm erzählt, daß er O'Reilly hieß, als man sie in dieses Rattenloch gebracht hatte. Inzwischen sprachen sie kaum noch miteinander; sie brauchten all ihre Energie, um zu überleben.
Der Mann direkt hinter Jon war tot. Jon hatte gehört, wie er an seinem Erbrochenen einige Stunden zuvor erstickt war, und bisher hatten ihn die Wachen noch nicht entdeckt. Wenn es soweit war, würden sie seine Leiche einfach über Bord werfen. Warum sollte man Gebete an einen Strafgefangenen verschwenden, dessen Verbrechen ihn jeglicher Menschlichkeit beraubt hatten? Jon konnte hören, wie die Ladeluke geöffnet wurde und vernahm den Klang der Schritte, als die Wachen heruntergestiegen kamen. Er schloß die Augen und murmelte ein kurzes Gebet für die Seele des toten Mannes hinter ihm und dachte, Himmel, ich kenne nicht einmal seinen Namen.
»Hoch mit euch, ihr Hunde, an Deck! Bewegt euch! «
Jon hörte das Scheppern, als die Metallstäbe, an die die Gefangenen gekettet waren, gelöst wurden, spürte, wie die Eisenstange sich löste, die seine Arme über seinem Kopf festgehalten hatte und ließ stöhnend seine Arme sinken. Eine Welle des Schmerzes durchzog seine verkrampften Muskeln, und er massierte sie mit beiden Händen, um den Blutkreislauf wieder anzuregen. O'Reilly, der näher an dem engen Gang zwischen den Planken, die zu beiden Seiten des Laderaumes befestigt waren, lag, begann, darauf zuzukriechen, und Jon mußte ihm zwangsweise folgen. Hinter sich konnte er müde Flüche hören, als einige Männer, blockiert durch die Leiche, nicht weiterkamen. Es folgte ein kurzes, schleifendes Geräusch, als sie die Leiche vor sich herschoben.
Nach zehn Tagen an Bord kannten sie dieses morgendliche Ritual bereits. Kurz nach Sonnenaufgang wurden die Gefangenen an Deck zusammengetrieben, um sich etwas bewegen zu können und ihr einziges, karges Mahl am Tag einzunehmen. Von allen Seiten waren Musketen auf sie gerichtet, aber bisher hatte es noch keinen Ärger gegeben. Trotz ihrer Wachsamkeit schien die Crew auch keinen Ärger zu erwarten. Als Jon hinter O'Reilly die schmalen Stufen hinaufschlurfte, mußte er sich eingestehen, daß sie wahrscheinlich sogar recht hatten. Nachdem sie Stunde um Stunde in dem Brutofen dort unten verbracht hatten, schienen die Gefangenen nichts weiter zu wollen, als die frische Seeluft einzuatmen, ihre Tasse Wasser zu trinken und soviel zu essen, wie man ihnen gab.
Auf Anweisung einer der Wachen reihte sich Jon bei den anderen Gefangenen entlang der Reling ein, um die Ketten überprüfen zu lassen. Der Erste Maat, Hinton, ein kräftiger, stämmiger Mann, fast so groß wie Jon, inspizierte Eisen für Eisen. Er hatte zu den Leuten gehört, die geschickt worden waren, um Jon und sechs andere Gefangene in Newgate abzuholen, und war offensichtlich über die gesamten Begleitumstände informiert worden. Jon haßte ihn aus tiefster Seele, um so mehr, weil er ihm gegenüber hilflos war. Jedesmal, wenn ihn das große, häßliche Gesicht wissend angrinste, jedesmal, wenn er den braunen Tabaksaft durch seine Zahnlücke hindurch ausspuckte, mußte Jon gegen das Verlangen ankämpfen, ihn in Stücke zu zerreißen. Er wußte, daß er ihn mit Leichtigkeit besiegen konnte. Er wußte aber auch, daß es ihn
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