Halten Sie sich für schlau?: Die berüchtigten Testfragen der englischen Elite-Universitäten (German Edition)
impulsiv?
Neuphilologie und Mediävistik, Cambridge
Selbstverständlich war Romeo impulsiv. Das zeigt sich schon daran, wie schnell er sich von seiner alten Liebe Rosaline abwendet, als er Julia begegnet:
Liebt ich wohl je? Nein, schwör es ab, Gesicht!
Du sahst bis jetzt noch wahre Schönheit nicht. 9
Auch hinter seiner Bereitschaft, eine totbringende Fehde zwischen den Familien Capulet und Montague auszulösen, um seine Liebe zu Julia sofort erfüllt zu sehen, steckt Impulsivität. Ungeachtet der Konsequenzen tötet er Tybalt aus Rache und lässt jede Ratio außer Acht:
Nun flieh gen Himmel, schonungsreiche Milde,
Entflammte Wut, sei meine Führerin!
Selbst Julia erschrickt angesichts Romeos Impulsivität, die seine plötzlich und heftig zu ihr entbrannte Liebe offenbart:
Er ist zu rasch, zu unbedacht, zu plötzlich,
Gleicht allzu sehr dem Blitz, der nicht mehr ist,
noch eh man sagen kann: Es blitzt.
Und genau das beabsichtigte Shakespeare zu zeigen: Romeo und Julia stehen repräsentativ für die Unbesonnenheit und Impulsivität der Jugend, sie verkörpern die bedenkenlose und rücksichtslose Liebe, die gleichzeitig ungeheuer verlockend und desaströs ist.
Aber macht die Liebe Romeo impulsiv oder verliebt er sich Hals über Kopf, weil er impulsiv ist? Liebe wird oft als eine Art Wahn beschrieben und kann vernünftige Männer und Frauen die verrücktesten Dinge tun lassen. Für viele Charaktere in den Dramen Shakespeares und seiner ungefähren Zeitgenossen wie Lope de Vega oder Calderón de la Barca sind Liebe und Wahnsinn zwei Seiten einer Medaille: Liebe ist süßer Wahn. Selbst Freud räumte ein: »Wenn man verliebt ist, ist man sehr verrückt.« Die Romantiker empfanden den Wahn der Liebe als befreiend, da er die Fesseln gesellschaftlicher Verhaltensnormen löste.
Romeo ist offenkundig dafür bestimmt zu lieben. Er sucht nach Liebe, nach dem Adrenalinschub, der mit ihr verbunden ist. Er ist in gewisser Weise süchtig nach Liebe – und deshalb auch süchtig danach, all seinen Impulsen sofort nachzugeben. Es gehört zum Wesen vieler tragischer Helden von Ödipus bis Othello, vorschnell und unüberlegt zu handeln, vom Herzen, nicht vom Verstand getrieben. Hätten sie nur einen Moment lang nachgedacht, hätte sich so manch fatale Wendung vielleicht verhindern lassen.
Gerade ihre Impulsivität aber ist es, die das Publikum in ihren Bann zieht. Sie erscheinen mutig und leidenschaftlich, wenn auch ein wenig töricht, und versetzen den Zuschauer in Spannung. Während wir sie gebannt beobachten, sind wir hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, sie zu warnen: »Tu das nicht! Das ist Wahnsinn!«, und sie anzuspornen: »Genau, missachte alle Vorsicht und schreite voran!« Dieses Spannungsverhältnis lässt uns das Geschehen auf der Bühne fasziniert verfolgen und uns alle Höhen und Tiefen miterleben. Die Impulsivität der Helden reißt uns mit, viel stärker als jedes bedachte, vernünftige Verhalten es tun würde. Das Publikum ist von der Risikobereitschaft der Figuren berauscht, da es durch ihre Handlungen stellvertretend Leidenschaft und Wagemut erlebt. Die Unbedachtheit der Helden macht sie aber auch anfällig für Niederlagen. Indem sie sich in die Figuren hineinversetzen, erleben die Zuschauer eine spannende emotionale Gratwanderung. Das tragische Ende des Helden bestätigt ihnen jedoch, dass ihr eigenes, besonnenes Verhalten letztlich angemessen ist, da es solche Katastrophen verhindert.
Die griechischen Philosophen bezeichneten ein Verhalten im Stile Romeos als akrasia , Unbeherrschtheit. Bis heute bemühen sich Philosophen und Psychologen, dieses Phänomen zu erklären. Sokrates glaubte, dieses Verhalten würde nur durch Ignoranz hervorgerufen – Menschen, die wirklich wüssten, was gut für sie ist, würden sich auch entsprechend verhalten. Diese Ansicht teilen viele Wirtschaftswissenschaftler der Moderne, auch Milton Friedman vertrat sie. Bei Romeo trifft diese These allerdings nicht zu, denn er schlägt die sichere Alternative bewusst aus. Thomas von Aquin führte impulsives, exzessives Verhalten auf einen Mangel an mäßigender Tugend, Scham oder Sittsamkeit (griechisch: aidos ) zurück – etwas, das Nietzsche später als fatale Schwäche geißelte.
Ab dem 18. Jahrhundert begannen Philosophen, impulsives Verhalten freundlicher zu bewerten. Sie erachteten es als aus dem ungezähmten, natürlichen Teil unseres Charakters stammend und beschrieben es als Gegengewicht zu unseren angelernten
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