Hand und Ring
gab ihr keine Antwort, weil ich am andern Ende des Zimmers, hinter einem hohen Mappenständerverborgen, etwas beobachtete, was alle meine Sinne beherrschte. – Wie gewöhnlich hatte ich mich am Dienstag morgen zu den astronomischen Studien eingefunden, die ich mit Helene Darling betrieb. Ich war an jenem Tage durchaus nicht dazu aufgelegt, denn ich dachte nur an die Unterredung mit Frau Klemmens, welche ich mir für den Nachmittag vorgenommen hatte. Als ich erfuhr, daß Fräulein Darling ausgegangen sei, war ich froh, ein stilles Stündchen für mich zu haben, um alles wohl zu überlegen. In dem Turmzimmer hoffte ich ungestört zu sein und saß dort lange in Nachdenken versunken, bis mir plötzlich einfiel, es müsse schon sehr spät sein, und ich ans Fenster trat, um nach der Stadtuhr zu sehen. Ich konnte mit bloßen Augen zwar das Zifferblatt erkennen, doch nicht wohin die Zeiger deuteten, aber ich erinnerte mich, daß wir vor einigen Tagen zur Kurzweil das Fernrohr auf die Stadt hinuntergerichtet hatten. Als ich hindurchsah nach der Uhr, stand der Zeiger gerade auf fünf Minuten vor zwölf – hierbei stockte sie und warf einen forschenden Blick auf Ferris.
Dieser fuhr zusammen. Fünf Minuten vor zwölf – rief er, und was geschah weiter?
Ich wollte versuchen, Frau Klemmens' Haus zu entdecken und wandte das Fernrohr nach rechts, da sah ich – –
Was? fragte Ferris gespannt.
Die Tür zum Eßzimmer war nur angelehnt – ein Mann sprang in wilder Eile über den Zaun – er lief nach dem Sumpf zu.
Und Sie erkannten den Flüchtling?
Sie rang nach Fassung.
Ja, es war Craik Mansell. –
Ein tiefer Ernst lagerte auf des Bezirksanwalts Stirn. Das geschah fünf Minuten vor zwölf, sagen Sie? – und fünf Minuten früher, zehn Minuten vor zwölf, war es der Verteidigung zufolge schon unmöglich, von Frau Klemmens' Haus die Station am Steinbruch bis zur Abgangszeit des Zuges, 1 Uhr 20 Minuten, zu erreichen?
Voll Todesangst hing ihr Blick an seinem Munde. Ich irre mich nicht, hauchte sie kaum hörbar; dann stieß sie verzweifelt hervor: Glauben Sie, daß mein Zeugnis ihm das Leben kosten wird?
Fragen Sie mich nicht, Fräulein Dare! war des Bezirksanwalts ausweichende Antwort. Das ist weder meine noch Ihre Sache.
Sie lachte wild und schrecklich auf. Nicht meine Sache? Freilich nicht. Ein Verbrecher ist ja dem Gesetz verfallen, und jeder gute Bürger ist verpflichtet, ihn der Staatsgewalt zu überliefern. Da müssen alle Herzensgefühle schweigen. Liebe und Treue, die man einander geschworen, die innigsten Bande, die zwei Menschen verknüpfen, gelten nichts, wo das Gesetz sein Opfer verlangt. Das Gericht sagt: Du weißt etwas, um diesen Mann ins Verderben zu stürzen, sprich es aus, man muß dem Gesetz gehorchen!
Vergebens war Ferris bemüht, der wilden Flut ihrer Rede Einhalt zu tun; ihr Jammer hatte endlich Worte gefunden.
O, Sie begreifen nicht, worum es sich handelt, rief sie; sehen Sie denn nicht, daß es meine Hand allein gewesen ist, die ihn langsam und erbarmungslos aus dem sichern Hafen vertrieben hat, bis ich ihm jetzt auch noch den letzten armseligen Zweig entreißen muß, an den er sich zu seiner Rettung klammert, der ihn allein noch bewahrt vor dem Sturz in den grausen Abgrund, der zu seinen Füßen gähnt. Sehen Sie nicht – –
Ich sehe genug, um Sie vom Grund meiner Seele zu beklagen, Fräulein Dare. Aber Sie sind nicht das einzige Werkzeug der Gerechtigkeit gewesen. Die Detektivs –
Verschwenden Sie nicht leere Worte! unterbrach sie ihn. Können Sie mir ins Antlitz behaupten, daß die Lagefür ihn gefährlich geworden wäre, auch wenn ich nicht gezwungen würde, diese letzte Tatsache zu enthüllen?
Ferris schwieg.
Sagte ich es nicht? stöhnte sie. Wenn der Gerichtshof ihm das Urteil spricht, so hat mein Zeugnis ihn zugrunde gerichtet. Fürwahr eine rühmliche Heldentat! Selbst auf Kosten des Lebens, das uns am teuersten auf Erden ist, die Wahrheit zu sprechen, das geht noch über römische Tugend. Ich werde als Muster für mein Geschlecht gelten; alle Welt wird das Weib rühmen, das um der Gerechtigkeit willen ihren Geliebten dem Henker überliefert hat.
Der leidenschaftliche Erguß hatte ihre Kraft erschöpft; die Arme sanken ihr schlaff am Leibe herab. Wissen Sie, murmelte sie mit hohler Stimme, daß manche Frau sich weit lieber das Leben nehmen würde, als das Entsetzliche zu vollbringen?
Ferris erschrak. Und Sie? fragte er schnell.
Ich? entgegnete sie dumpf. O fürchten Sie nichts
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