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Handbuch für Detektive - Roman

Handbuch für Detektive - Roman

Titel: Handbuch für Detektive - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Schnur, die an Unwins Gehirn gezogen hatte, spannte sich und zerrte ihn aus seinen verschachtelten Träumen, hinaus aus seinem Badezimmer, hinaus aus dem Vergnügungspark und zurück in das zischende Rauschen des Regens. Ein dunkler Umriss zeichnetet sich auf dem Boden vor seinen Füßen ab und rollte hin und her. Es war Lamech, der noch immer verzweifelt versuchte, sich von seinem Hut zu befreien, der sich mittlerweile so fest um sein Gesicht geschlossen hatte, dass sich Nase und Stirn durch den Filz abzeichneten. Unwin beugte sich über ihn, weil er ihm irgendwie helfen wollte. Er versuchte, den Hut in die Hände zu bekommen, obwohl er wusste, dass das unmöglich war.
    Lamech trat auf dem Kopfsteinpflaster um sich und brüllte. Er zuckte, rollte auf dem Boden herum und sein Hemd löste sich aus der Hose. Dann endlich konnte er sich den Hut vom Kopf reißen. Sein Gesicht war rot und schweißüberströmt,der Mund bildete ein perfektes O, als er nach Luft schnappte.
    Der Hut hatte seine Form verloren und lag auf dem Boden, ein totes kleines Tier. Lamech schmiss ihn in den Rinnstein, wo das Wasser ihn davonspülte. Langsam kam er auf die Knie und sah seiner Kopfbedeckung hinterher. Sein Atem war nur ein heiseres Schnaufen. Dann stand er auf und klopfte sich mit den Händen ab. Also war es doch nicht Enoch Hoffmann gewesen, der den Wächter umgebracht hatte.
    Er sah ins Leere und sagte: «Okay, Ende der Führung. Jetzt kann ich nicht mehr viel für Sie tun, um Ihnen zu helfen. Die Suppe haben wir uns selbst eingebrockt, Mr. Unwin. Also müssen wir sie auch selbst wieder auslöffeln.»
    Er wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Mittlerweile atmete er wieder leichter, doch seine Stimme war noch leise. «Ich hätte das alles besser machen können. Ich hätte Ihnen mehr zeigen können. Wir stecken ganz schön in der Klemme, wir alle miteinander. Lesen Sie Ihre Ausgabe des
Handbuchs
. Finden Sie Sivart, wenn Sie können, und holen Sie ihn dort raus, bevor er alles noch schlimmer macht.»
    Lamech steckte die Hände in die Hosentaschen und schaute sich um. «Also dann!», sagte er. «Jetzt wachen Sie schon auf.»
    Unwin wachte auf.
     
    Unter der schweren Baumwolldecke waren seine Füße ganz feucht in den Socken. Sein Kopf war schwer und das Kissen darunter fühlte sich auch schwer an. Er hatte das sonderbare Gefühl, dass sein Schädel magnetisiert worden war. Er hatte einen unangenehmen, metallischen Geschmack im Mund.
    Im dritten Archiv spielte keine Musik mehr und Miss Palsgrave stand nicht mehr an ihrer Maschine. Hilda, die Riesin Hildegard, die Hauptschreiberin von … nun, von alldem hier, vermutete Unwin – war nirgendwo zu sehen. Um ihn herum waren die Unterschreiber in ihr schläfriges Tun vertieft. Welch seltsame Visionen hatten Hoffmann und seine Tochter sich ausgedacht, um Einsicht in ihre Traumwelten zu bekommen? Nur der ewig wache Jasper Rook konnte für immer immun gegen sie bleiben – und Jasper, das rief sich Unwin ins Gedächtnis, war vermutlich mittlerweile wieder in der Stadt und suchte nach dem Mann, der seinen Bruder umgebracht hatte.
    Auf der Platte mit Lamechs letztem Traum hatte die Grammophonnadel die Auslaufspur erreicht und drehte sich in einer endlosen, geräuschlosen Schleife. Unwin stellte den Apparat ab und fand, als er die Platte umdrehte, eine weitere Spur auf der B-Seite. Lamech hatte ihm gesagt, es gebe nichts mehr zu sehen, doch der Wächter schien auch nicht alles zu begreifen, was da vorging. Unwin brauchte mehr Informationen; er setzte die Nadel auf die Platte und schloss die Augen.
    Wieder bildeten die Klänge ein Muster, wurden aus den Mustern Umrisse, und dieses Mal sank er von oben in den Traum hinab. Einen Moment lang hatte er einen schwindelerregenden Blick auf Lamechs Stadt, die unter ihm lag. Er schoss rasch abwärts, so schnell, wie Regentropfen fallen, sodass jeder einzelne lange Tropfen unbewegt vor ihm zu hängen schien. Er blickte auf. Noch mehr Tropfen lauerten wie Dolche über seinen Augen; er wünschte sich seinen Schirm herbei, und da war er schon. Er spannte ihn auf. Der Schirm hing wie ein Fallschirm über ihm, und er baumelte daran wie ein Pendel, während der Regen auf ihn niederprasselte.
    Lamech ging auf einen Hauseingang zu, den des höchsten Gebäudes in diesem Stadtteil, vielleicht sogar der ganzen Stadt. Es stand etwas abseits von den anderen Häusern wie ein dunkler Obelisk. Irgendwie kam ihm dieser Ort bekannt vor. Als Unwins Füße eben den Boden

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