Hannah, Mari
das Gegenteil. Sie saßen in dem kleinen Wohnzimmer des Hauses, das der Mutter von Alan Stephens gehörte, ehemals ein Sozialbau, der seit Jahren nicht renoviert worden war. Die Möbel waren abgenutzt und unmodern, die Teppiche fadenscheinig und unbrauchbar. Stephens mochte ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen sein, aber er hatte mit Sicherheit nicht mit Geld um sich geschmissen, zumindest nicht in Richtung seiner Mutter.
Daniels’ Treffen mit Mrs. Stephens senior kurz zuvor war nicht direkt eine Vernehmung gewesen, eher ein Beileidsbesuch bei der Mutter eines Mordopfers. Sie war einundachtzig Jahre alt, eine gesunde Dame mit stahlblauen Augen, die nicht mit ihrer Meinung hinter dem Berg hielt. Ihre extreme Reaktion auf die Tragödie war schmerzlich zu beobachten. Als Daniels den Grund dafür herausfand, sank ihr das Herz. Einen Sohn zu überleben, war ein Unglück; zwei zu überleben war mehr, als eine Mutter womöglich ertragen konnte.
Für die Frau, die ihr jetzt gegenüber saß, hegte Daniels weit weniger Mitgefühl oder Anteilnahme. Sie fuhr fort. »Er war also beliebt?«
Monica hob die Teetasse an die Lippen. »So beliebt wie ein erfolgreicher Geschäftsmann eben ist.«
Daniels wechselte einen kurzen Blick mit Gormley und fragte sich, ob es etwas zu bedeuten hatte, dass sie ihren Mund verdeckte. Verbarg sie etwas oder trank sie einfach nur Tee? Wäre Daniels eine Spielernatur gewesen, hätte sie sich für Ersteres entschieden, aber zumindest im Moment wollte sie zugunsten der Witwe urteilen.
»Können Sie mir sagen, wann Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen haben?«, fragte Daniels.
»Gegen sieben.« Monica stellte die Tasse auf die Untertasse zurück. »Nein, etwas später. Sein Taxi kam zu spät. Er hat noch eine Bemerkung darüber gemacht. Alan war durch und durch Engländer, ein bisschen exzentrisch sogar. Pünktlichkeit war ihm wichtig. Er hielt sie für ein Kriterium, um jemanden einzuschätzen. Er hasste Schlamperei in jeglicher Form.«
»Wollte er direkt zum Hotel Weston?«
Monica nickte. »Das hat er gesagt.«
Daniels registrierte den Zweifel. »Und Sie haben das Haus wann verlassen?«
»Kurz danach.«
»Um wohin zu gehen?«, fragte Gormley beiläufig.
»Zu einem Essen mit einer Freundin, die ich dann zum Flughafen Newcastle gefahren habe; gegen Mitternacht war ich wieder hier.«
Daniels reichte das nicht. »Zu welchem Flug?«
»Spielt das eine Rolle?«
Die Ermittler sahen sie nur an.
Monica hob die Hände, gab klein bei. »Entschuldigung, natürlich. Wahrscheinlich müssen Sie auch bei mir genau nachvollziehen, was ich gemacht habe. Sie hat einen Flug nach London genommen. Sie hat Familie da unten.«
»Können Sie sich erinnern, wo sie eingecheckt hat, bei welcher Fluggesellschaft?«
Monica zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich habe nicht darauf geachtet. Wir haben noch an der Bar etwas getrunken, dann ist sie gegangen, ich weiß nicht … so gegen halb elf, schätze ich.«
Daniels spürte, wie sich ein erregtes Kribbeln in ihr ausbreitete. Nach allem, was sie wusste, gab es so spät in der Nacht keinen Flug mehr von Newcastle zu einem der Londoner Flughäfen.
»Haben Sie irgendeine Ahnung, bei wem sie in London übernachtet?«
Monica seufzte, allmählich genervt von der Fragerei. »Sagen Sie immer allen Leuten so genau, wo Sie hingehen, Detective? Wenn man Urlaub macht, geht’s da nicht gerade darum, dass man nicht gefunden werden kann?«
»Haben Sie irgendetwas gekauft, als Sie am Flughafen waren?«
»Nur Getränke.«
Gormley sah sie an. »Haben Sie die Kassenzettel aufgehoben?«
»Wer hebt denn Kassenzettel auf? Ich habe bar bezahlt. Waren ja nur ein paar Pfund.«
»Natürlich.« Daniels nickte. »Und wie heißt Ihre Freundin?«
»Teresa.«
»Nachname?«
»Branson, Teresa Branson.«
»Danke, Mrs. Stephens.« Daniels stand auf. »Ich denke, das ist alles fürs Erste. Bitte nehmen Sie Kontakt mit uns auf, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Rufen Sie mich jederzeit an. Und falls Sie es sich noch anders überlegen, sprechen Sie mit unserem Angehörigenbetreuer, auch wenn Sie irgendetwas brauchen, egal was. Dafür sind die da.«
Sie verabschiedeten sich an der Haustür und gingen zu ihrem Toyota. Daniels wartete, bis sie im Wagen saßen, bevor sie etwas sagte. »Falls sie um ihren Ehemann trauert, schafft sie es verdammt gut, das zu verbergen.« Sie schnallte sich an, startete den Motor und fuhr los. »Klingel mal Lisa an, Hank. Sag ihr, sie soll sich die
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