Hannahs Entscheidung
weiterschlich, brachen Sonnenstrahlen durch das dichte Blätterdach der Bäume und zauberten Lichtmuster auf den Waldboden. Andere würden diesen Anblick vielleicht als romantisch bezeichnen, doch ihn konnte die märchenhaft anmutende Atmosphäre nicht täuschen. Shane wusste nur zu gut, welche Gefahren in den tiefen Schatten des Waldes lauerten. Nur Hannah zuliebe, die gern wanderte, war er früher unzählige Male durch den Wayne National Forest gestapft und hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Sie übernachteten am Ufer des Ohio River in einer schäbigen Hütte, wo er Hannah nachts nah bei sich hatte halten müssen, weil sie fürchterliche Angst vor all dem krabbelnden Viehzeug verspürte. Er hatte sie deswegen geneckt, es jedoch insgeheim genossen, wie sie sich Hilfe suchend an ihn schmiegte. Er vermisste die glücklichen, vor Verliebtheit glitzernden Tage. Tja, diese Zeiten waren vorbei. Leider. Vergiss Harper, vergiss alles, was war und konzentriere dich auf das Wesentliche, Mulligan, befahl er sich. Du musst Hannah zurückholen. Um jeden Preis.
Er näherte sich Green Acres. Wie stolz das Haus zwischen den majestätischen Bäumen ruhte. Neid fuhr in seine Eingeweide und hinterließ einen giftig-galligen Geschmack auf seiner Zunge. Kein Wunder, dass Hannah von dem reichen Schnösel geblendet schien! Wer würde nicht gern an so einem hinreißenden Ort wohnen wollen? Hannah hatte aber in dieser Welt nichts verloren. Sie gehörte zu ihm. Zu ihm in das Haus am Valley Drive in Marietta. Er musste dafür sorgen, dass sie wieder zur Vernunft kam.
Unvermittelt geriet er auf etwas Glitschiges, vielleicht war es Moos oder irgendein verfluchter Pilz. Sein rechter Fuß rutschte zur Seite. Verzweifelt suchte er an einem Baumstumpf Halt und schrammte sich dabei die Handfläche auf. Ein spitzer Spreißel jagte in sein Fleisch. Mit schmerzverzerrtem Gesicht biss er auf seine Unterlippe, bis er das Blut schmecken konnte. Damnit!
Schweiß tropfte von seiner Stirn, als er sich weiterstahl, den Blick unverwandt auf die großen Fenster geheftet, hinter denen Lichtschein flackerte. Was zum Teufel ging da vor sich? Am liebsten wäre er losgestürmt, hätte seine Nase an das kalte Fensterglas gepresst und mit den Fäusten dagegen getrommelt. Der Gedanke, dass Hannah – seine Hannah – sich in diesem Moment mit diesem schmierigen Cowboy unter einem Dach aufhielt, war kaum zu ertragen. Doch er durfte nicht unüberlegt handeln. Er musste vorsichtig sein. Den richtigen Zeitpunkt abwarten. Schließlich wollte er diese Mission nicht auch noch versauen. Das letzte Mal war sein Plan nicht aufgegangen. Wenn dieser verdammte Parker nicht plötzlich aufgetaucht wäre, hätte er Hannah bereits nach Hause geholt.
Flink huschte er hinter einen Lorbeerbusch. In dessen Schutz niederkauernd tastete er nach seinem Hilfsmittel, das er seitlich an seiner Hüfte gut verborgen mit sich trug. Seine Lippen verzogen sich zu einem zufriedenen Lächeln, als seine Finger auf das kalte Metall trafen. Er war gerüstet. Konnte jederzeit in Aktion treten. Vorsichtig schob er die mit fetten grünen Blättern bestandenen Zweige auseinander und spähte hindurch. Perfekt. Von hier aus hatte er einen direkten Blick aufs Haus. Seine Augen scannten die Fenster, und dann entdeckte er sie. Zitternd ballte er seine Fäuste. Ein heißes Glühen – halb Wut und halb Sehnsucht – erfasste seinen Körper, während sich die Szene im Zimmer in sein Hirn brannte. Hannah und Parker hatten es sich vor dem steinernen Kamin, in dem ein helles Feuer loderte, gemütlich gemacht. Sie unterhielten sich, lachten. Hannah strich sich durchs Haar, wobei sie den Kopf ein wenig neigte. Verflixt, wie vertraut ihm diese Geste war. Tausend Mal schon hatte er sie gesehen. In seiner Magengrube verknotete sich etwas. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Parker. Mit einem selbstgefälligen Grinsen lehnte der Kerl mit dem Rücken gegen die Wand am Kamin, den Schürhaken in der einen, ein Glas mit einer dunkelroten Flüssigkeit in der anderen Hand. Er sagte etwas, und erneut lachte Hannah auf. Verdammt, verdammt!
Shane gefiel nicht, was er sah. Er konnte den Blick nicht von seiner Frau wenden. Sie schien so verändert, so jung. Fast glücklich. Wie konnte sie es wagen, in Gegenwart eines fremden Mannes glücklich zu sein, während er hinter einem Busch kauerte und sein Herz vor Wut und Verzweiflung wild gegen seine Rippen hämmerte? Selbstmitleid übermannte ihn, und brennende Sehnsucht
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