Hannas Entscheidung
seiner Anzugjacke.
Hanna wischte sich das Gesicht trocken, bevor sie sich die triefende Nase putzte. »Tut mir leid, Onkel Richard, du bekommst es sauber wieder.«
»Ach, Johanna, mach dir darüber keine Gedanken.« Er packte sie an den Schultern und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, legte den Arm um sie und führte sie zu einer dunkelroten Couch.
Auf einem kleinen Tischchen stand eine Kanne Tee auf einem Stövchen, daneben gab es einen Teller mit belegten Broten. Ihr Onkel nahm die Kanne und schüttete die drei Tassen voll. »Kommen Sie, Professor Bartoli, setzen Sie sich zu uns. An Ihnen ist der Abend gewiss auch nicht spurlos vorbeigegangen.«
Tausend Fragen gingen Hanna durch den Kopf, als sie die ersten heißen Schlucke zu sich nahm.
»Ich gebe zu, es gab eine Zeit, da dachte ich, ich hätte versagt und du wärst tot.« Ihr Onkel hatte sich zurückgelehnt und sich ihr seitlich zugewandt. Er sah sie an und drehte nachdenklich seinen Kardinalsring.
»Niemand weiß, dass ich lebe«, sagte sie leise und wusste, ihr Onkel verstand, dass sie mit niemand Silvia und Marie meinte.
»Keine Sorge, ich habe es ihnen nicht gesagt. Ich weiß, dass du es dir mit deiner Entscheidung nicht einfach gemacht hast und sie beschützen möchtest, aber – versteh mich nicht falsch – ich bin froh, dass du den Mut gefunden hast, gegen Armin auszusagen.«
Kardinal Richard Vogt sah sein Patenkind an. Sie war die Ältere von den Zwillingen und er war froh, dass er seinem Freund Gabriel, die Übernahme der Patenschaft für dessen Tochter nicht ausgeschlagen hatte. Manchmal glaubte er, dass Gabriel eine Ahnung gehabt hatte, welch schwerer Lebensweg vor ihr lag. Er bewunderte Hannas Mut und die Tiefe ihres Glaubens, zumal er nicht wusste, ob er selbst ihn in dem Maße aufgebracht hätte, bei einer Prüfung, wie Gott sie ihr abverlangte. Nicht sie lernte von ihm, sondern er von ihr. Seit dem Tag, als er sie das erste Mal in den Armen gehalten hatte. Er seufzte tief.
»Aber auch du hast ein Recht auf dein Leben. Ich weiß, wie viel dir die beiden bedeuten. Doch du hast erneut Opfer gebracht, deinen Namen aufgegeben und die einzigen Menschen, die dir etwas bedeuten.« Er schüttelte traurig den Kopf. Beim Weinen an seiner Schulter waren ihr die Kontaktlinsen aus den Augen geschwemmt worden. Nun sahen ihn die Augen seines Patenkindes an wie Himmelssterne. Er strich ihr sanft über die Wange.
»Woher?«
»Wir haben unsere Mittel und Wege, an Informationen zu gelangen.«
»Also lag es nicht an meiner Arbeit zur frühchristlichen Kunst und ihrer Symbolik, dass ich hier bin?«
Er lachte. »Nein, aber die hat es uns sehr einfach gemacht, dich in dem Projekt von Professor Bartoli unterzubringen. Ich wollte dich in meiner Nähe wissen. Sicherstellen, dass es dir gut geht. Verzeih deinem alten sentimentalen Onkel.« Sie beiden sahen zu dem Professor, der verlegen lächelte. »Unser lieber Bartoli hat sich anfangs ganz schön gegen die Idee gewehrt. Inzwischen ist er beeindruckt von der Arbeit, die du leistest, und sein Angebot für den Job in seinem Institut hast du ganz allein deinem Talent zu verdanken.«
»Aber das ist nicht alles.«
»Nein, das ist nicht alles. Weißt du, ich habe deinem Vater das Versprechen gegeben, immer für dich da zu sein. Auf dich aufzupassen, damit dir nichts passiert. Dieses Versprechen habe ich in den letzten Jahren zu oft gebrochen.«
»Nein, das hast du nicht.« Er war für sie da gewesen, als sie ihn brauchte. Nie hätte sie sich von ihrer Mutter oder Marie getrennt, und es lag nicht in seiner Macht, Silvia zu verbieten, Armin zu heiraten. Trotzdem hatte er es getan, was zu einem hässlichen Streit zwischen ihrer Mutter und ihrem Patenonkel geführt hatte.
Er seufzte tief. »Ich hätte es verhindern müssen.«
»Wie?«
»Ja, wie. Gegen die Liebe bin ich machtlos, das habe ich schon damals gemerkt, als Silvia in Gabriels Leben getreten ist.«
»Magst du Mama deshalb nicht?« Er drehte an seinem Ring, wich ihrem Blick aus. Hanna konnte sich nicht erinnern, dass die beiden jemals miteinander ausgekommen wären. Solange ihr Vater gelebt hatte, versuchten sie über eine distanzierte Höflichkeit die wenige gemeinsame Zeit zu überbrücken. Meist fiel Silvia ein, dass sie noch etwas Dringendes in der Stadt zu erledigen hatte, wenn ihr Onkel zu Besuch kam. Den ersten großen Streit gab es auf der Beerdigung ihres Vaters, als er vorschlug, die Zwillinge sollten zu ihm in seine Villa nach Rom kommen,
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