Hannas Wahrheit (German Edition)
heil gewesen.
Sie war einfach aus ihrer Wohnung geflüchtet, ohne einen Plan. Sie wusste ganz und gar nicht, was sie machen sollte. Deshalb war sie hierhergefahren. Um sich ihrer Gefühle und Gedanken klar zu werden.
Sie stieg aus dem Auto, nahm ihren Fotoapparat und beschloss, ihren alten Spazierweg am Templiner See entlangzugehen. Langsam wich die Nacht dem Morgen. Trotz all ihrer Sorgen zauberte der Anblick des Sees in den frühen Morgenstunden ein Lächeln auf ihre Lippen. Es gab so viele schöne Erinnerungen, die sie mit dem Weg verband. Fast schien es ihr, als könnte sie die warme Hand ihres Vaters spüren, der ihre Hand bei den Spaziergängen umfasst hielt. Ruhe überkam sie. Sie musste mit Marie sprechen. Ihr sagen, dass sie wusste, was sie gemacht hatte. Als Nächstes würde sie Marie davon überzeugen, dass es am besten wäre, wenn sie zur Polizei ging und die Wahrheit sagte. Ja, auch wenn Marie schuldig war, so war es doch die beste Lösung. So viel war Hanna aus ihrer eigenen Erfahrung heraus klar. Irgendwann würde einen sonst das Schweigen einholen. Dann, wenn man es am wenigstens erwartete und brauchte. Gottes Mühlen mahlten langsam, aber sie mahlten.
Hanna beobachtete, wie der Morgen die Nacht vertrieb. Sie konnte nicht anders, als durch das Objektiv die Schönheit der Landschaft einzufangen. Sie fragte sich, was dieser See an Liebe, Kummer oder Streit gesehen hatte. Gab es Menschen, die darin ertrunken waren? Menschen, die sich darin geliebt hatten? Leid und Freud lagen so dicht beieinander. Tränen stiegen in ihr hoch. Sie hätte die Wahrheit sagen müssen, sie hätte niemals schweigen dürfen.
Statt einer geschlossenen Telefonzelle wie früher stand da jetzt ein offenes Telefon. Hanna schob ihre Telefonkarte in den Schlitz und wählte die Nummer ihrer Schwester. Das Festnetz erschien ihr sicherer als eine Verbindung auf das Handy von Marie. Sie hoffte, dass sie Marie noch zu Hause erreichen würde.
„Ja“, meldete sich Marie.
„Ich bin’s, Hanna.“
„Was willst du?“, fragte Marie abweisend.
„Ich muss mit dir reden.“
„Damit du mich wieder mit Schmutz und Lügen bewerfen kannst?“
„Bitte, Marie, wir müssen dringend miteinander reden.“
Sie hörte Marie am anderen Ende atmen. „Und worüber sollten wir reden?“
„Nicht am Telefon.“
„Weshalb nicht?“
„Weil es nicht sicher ist.“ Sie schloss die Augen, hoffte, dass ihre Schwester verstand, was sie meinte, ohne dass sie deutlicher werden musste.
„Wo?“, fragte Marie schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit.
„Weißt du noch, wo ich dich damals an unserem neunzehnten Geburtstag hin mitgenommen habe?“
„Ja“, hörte sie Marie mit rauer Stimme antworten. „Wie könnte ich das je vergessen.“
„Ich warte auf dich“, flüsterte sie leise, aber da hatte Marie bereits aufgelegt.
Major Wahlstrom wählte die Nummer in der Zentrale, er erwischte einen genervten Sven Brinkmann.
„Was macht dieses verfluchte Weibsstück?“, raunzte Sven statt einer Begrüßung ins Telefon.
„Schlafen“, log er ruhig.
„Sie hat das zweite Zeitfenster nicht genutzt. Du kannst mir nicht erzählen, dass sie schläft.“
„Ist aber so.“
„Mist, verdammter, damit sind wir genauso weit wie vorher.“
Er wartete, bis Sven aufhörte, vor sich hin zu fluchen, und wieder zuhörte.
„Ich brauche ein bisschen Schlaf. Kannst du mir eine Ablösung schicken?“
„Dich scheint das Ganze überhaupt nicht zu interessieren“, erwiderte Sven gereizt.
Vorsichtig, ermahnt Ben sich selbst.
„Nein, aber ich bin K.o. und brauche meinen Schlaf, damit ich wieder klar denken kann.“
„Bist du so ein Weichei, dass du noch nicht mal einen Einsatz über 24 Stunden durchhältst?“, spottete Sven. „Und ich dachte, ihr wäret so ein tougher Haufen.“
Er hielt seine Zunge im letzten Moment im Zaum. Er wusste, dass Sven Brinkmann einfach frustriert war und an jemandem seinen Ärger auslassen musste.
„Wie sieht es mit der Ablösung aus?“, kam er auf das eigentliche Thema zurück.
„Ist in zwanzig Minuten da.“
Bevor er danke sagen konnte, hatte Sven bereits aufgelegt. Bens Handy vibrierte.
„Und?“, meldete er sich, nachdem er die Nummer gesehen hatte.
Am anderen Ende seufzte Paul Gerlach. „Es wird dir nicht gefallen.“ Er schwieg. „Über das Kennzeichen, habe ich die Taxifirma erreicht. Der Taxifahrer hat sie am Flughafen rausgelassen. Ich prüfe gerade, ob ich sie auf den Passagierlisten
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