Happy End auf Sizilianisch
Als sie den Wasserkessel auf den Herd stellen wollte, fiel ihr ein unscheinbarer Zettel auf, der auf dem Tisch lag.
Der Text war so schlicht wie niederschmetternd.
Liebste Angie
,
ich war Dir gegenüber offener als je einem Menschen zuvor, und mich quält die Angst, dass ich zu offen war.
Mich kann man ebenso wenig lieben, wie ich lieben kann. Um Dir nicht mehr wehzutun, als ich es bereits getan habe, bitte ich Dich, mich zu vergessen und nach England zurückzukehren – um unser beider willen.
Vergib mir.
Bernardo
Wie unter Zwang las Angie die Zeilen immer wieder. Derselbe Mann, der sie nachts mit unvergleichlicher Leidenschaft und Zärtlichkeit geliebt hatte, hatte sich im Morgengrauen davongestohlen, als müsse er sich vor ihr in Sicherheit bringen.
Doch am meisten ließ sie der entsetzliche Gedanke verzweifeln, dass sie sich sein Verhalten selbst zuzuschreiben hatte. Schließlich hatte Bernardo sie deutlich davor gewarnt, ihn zu zwingen, ihr Dinge zu sagen, die er sich selbst nicht eingestehen konnte. Trotzdem hatte sie darauf bestanden, und die Quittung dafür hielt sie nun in Händen.
Das Gefühl des Triumphes, das sie vor wenigen Minuten noch empfunden hatte, war schlagartig verschwunden, weil sie sich mit der bitteren Erkenntnis konfrontiert sah, dass sie alles gewagt und alles verloren hatte.
Noch ist nichts verloren!, sagte sie sich, zog sich hastig an und rannte hinaus auf die Straße. Um nicht bei jedem Schritt auszurutschen, hielt sie sich nah an den Häusern und kämpfte sich mühsam zu der schmalen Gasse, in der Bernardos Haus lag.
“Bernardo!”, rief sie seinen Namen, als sie endlich vor der Pforte stand, die in den Innenhof führte.
Es dauerte nicht lange, bis die Tür geöffnet wurde.
“Er ist nicht mehr hier”, erklärte ihr Stella mit Tränen in den Augen. “Vor einer Stunde hat er das Haus verlassen.”
“Hat er gesagt, wohin er wollte?”
“Nein”, erwiderte die Haushälterin betrübt. “Er sagt mir nie, wohin er fährt und wie lange er bleibt.”
“Weit kann er noch nicht sein”, äußerte Angie eine vage Hoffnung, um gegen das Gefühl der Panik anzukämpfen, das in ihr aufstieg. “Es ist doch alles tief verschneit!”
“Wenn ich mich richtig erinnere, erwähnte er sein Auto.”
Angie wusste, was sie zu tun hatte. Ohne sich von Stella zu verabschieden, machte sie sich auf den Weg zum Stadttor. Als sie dort endlich ankam, entdeckte sie mehrere Fußspuren im Schnee. Die einen stammten eindeutig von ihr, als sie auf der Suche nach Bernardo den Berg hinabgegangen war, die anderen von ihnen beiden, als sie den Verletzten und halb Erfrorenen zu ihrem Haus gebracht hatte.
Doch außerdem waren da noch frische Abdrücke, und diese ließen darauf schließen, dass ein Mann in großer Eile den Ort verlassen hatte. Ängstlich verfolgte Angie mit dem Blick die Spur in der Hoffnung, dass sie irgendwann kehrtmachte. Doch obwohl die tief stehende Sonne sie blendete, musste Angie erkennen, dass die Spur den Berg hinabführte, bis der Dunst sie verschluckte.
10. KAPITEL
D ie Nachricht, dass Heather ein Kind erwartete, versetzte die gesamte Familie Martelli in helle Aufregung, und auch Angie konnte es kaum erwarten, ihre Freundin zu sehen.
Sobald die Witterungsverhältnisse es zuließen, fuhr sie nach Palermo, wo sie von Heather und Baptista mit offenen Armen empfangen wurde. Die drei Frauen setzten sich auf die Terrasse und genossen die ersten Sonnenstrahlen, die vom herannahenden Frühling kündeten – jedenfalls an der Küste, dachte Angie mit einer Spur Bitterkeit daran, dass in Montedoro noch tiefster Winter herrschte.
Doch so mühsam und beschwerlich das Leben dort mitunter auch war, sie war fest entschlossen, daran festzuhalten – wie an dem Mann, dessentwegen sie in die Berge gezogen war. Nicht einmal dass er sie verlassen hatte, konnte daran etwas ändern.
Zu ihrer Erleichterung vermieden es Heather und Baptista, sie auf Bernardo anzusprechen. Dennoch war sich Angie durchaus bewusst, dass sie sich insgeheim fragten, warum er sie nicht begleitet hatte.
Angie dachte allerdings nicht im Traum daran, ihre Neugier zu befriedigen. Seit dem unseligen Morgen, an dem sie seinen Abschiedsbrief gefunden hatte, hatte sie unaufhörlich über das nachgedacht, was Bernardo ihr erzählt hatte. Und als sie nun Baptista gegenübersaß, fiel es ihr mehr als schwer, sich vorzustellen, dass diese gutmütige und warmherzige Frau ihn hassen könnte – was immer er ihr auch angetan haben
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