Happy End in Seattle (German Edition)
er die längsten und enthaltsamsten Monate seines Lebens hinter sich, und jetzt wollten ihn an einem einzigen Tag gleich zwei Frauen verführen. Die Ironie des Schicksals war fast zum Lachen.
„Ich glaube nicht, dass das klug wäre“, sagte er behutsam, bemüht, ihrem Kummer nicht noch weiteren hinzuzufügen.
Mary Lynn hob den Kopf vom Kissen und küsste ihn. Dabei setzte sie geschickt alle Verführungskünste ein, die sie in den Jahren ihres Zusammenlebens erworben hatte.
Aber Steve mochte nicht mehr mitspielen. Abrupt brach er den Kuss ab. „Nein, Mary Lynn“, sagte er ernst, „es ist aus zwischen uns beiden. Du bist im Moment traurig und deprimiert, das ist alles. In Wirklichkeit willst du mich doch gar nicht.“
„Doch, Steve, ich begehre dich! Ich sehne mich so nach dir.“ Sich unter ihm windend, presste sie verführerisch ihren Unterleib an seinen. „Du darfst mich nicht zurückweisen, bitte. Nicht jetzt, wo ich das Gefühl habe, dass die ganze Welt um mich herum zusammenstürzt.“
Es war ihm vollkommen klar, dass sie nicht ihn begehrte, sondern die Sicherheit, die seine Liebe ihr immer gegeben hatte. „Du bist jetzt mit einem anderen Mann zusammen, Mary Lynn“, wies er sie zurück. Fast hätte er den Fehler gemacht und „verheiratet“ gesagt, was ja wohl inzwischen in Frage zu stellen war.
Als er sich aufzurichten versuchte, klammerte sie sich schluchzend an ihm fest. „Leg dich zu mir, bitte. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich zuletzt geschlafen habe.“
Seufzend ließ er sich wieder in die Kissen hinunterziehen. Mary Lynn schmiegte sich an ihn. Nur allmählich ließ ihr Schluchzen nach. Steve nahm sie in den Arm. Dabei überlegte er, dass es nicht lange dauern konnte, bis sie einschlafen würde. In dem Moment, wo ihr die Augen zufielen, würde er verschwinden.
Aber offenbar war Mary Lynn nicht nach Schlafen, sondern nach Reden zu Mute. „Ich weiß nicht, wieso ich mich überhaupt in Kip verliebt habe“, fing sie an.
„Er scheint doch okay zu sein“, murmelte Steve.
„Er ist verlogen und stur“, gab Mary Lynn zurück, als hätte sie erst jetzt Kips wahren Charakter erkannt.
Steve fühlte sich nicht bemüßigt, Kips Vorzüge ins Feld zu führen, was er auch gar nicht konnte, weil er den Mann nicht kannte. Solange Kip seinen Kindern ein guter Stiefvater war, konnte ihm alles andere egal sein.
„Ich glaube nicht, dass er zurückkommen wird“, sagte Mary Lynn bedrückt.
Schlagartig wurde ihm der wahre Grund ihrer Verzweiflung bewusst. Sie hatte Angst, Kip zu verlieren. „Er muss zumindest seine Sachen abholen, nicht wahr?“ fragte er. „Dann kannst du mit ihm reden.“
Auf den Ellbogen gestützt, putzte sie sich die Nase. „Ich weiß es nicht. Vielleicht schickt er jemanden, um seine Sachen zu holen. Ich sagte ihm, dass ich ihn niemals wiedersehen will. Und ich glaube nicht, dass er mich noch einmal sehen möchte. Wirklich nicht.“
„Warte es doch erst einmal ab.“
„Wie konnte er mir das antun?“ jammerte sie und klang dabei wie ein verängstigtes kleines Mädchen.
„Schsch.“ Steve barg ihren Kopf an seiner Schulter. „Schlaf jetzt.“ Je schneller sie einschlief, desto schneller konnte er sich aus dem Staub machen. Nicht seine Ex-Frau wollte er in den Armen halten, sondern Hallie, die Frau, die er liebte. In Gedanken war er längst bei ihr. Und das Glücksgefühl, das ihn dabei durchflutete, steigerte seine Ungeduld, zu ihr zurückzukehren.
„Ich bin so müde“, seufzte Mary Lynn.
Auch er war müde. Allein der Gedanke an Schlaf ließ ihn gähnen. Nachdem er die letzte Nacht mit einem Haufen neunjähriger Jungs in einem riesigen Zelt verbracht hatte, war er erschöpft. Mindestens bis zwei Uhr nachts hatten die Kinder herumkrakeelt. Mehr als zwei Stunden Schlaf hatte er gewiss nicht gehabt.
Mary Lynn weinte leise vor sich hin.
„Es wird schon alles gut werden“, versicherte er ihr noch einmal. „Alles fügt sich irgendwann, das ist der Lauf der Dinge.“
Noch vor einigen Monaten hätte er diesen Worten keinen Glauben geschenkt. Aber jetzt glaubte er sie. Dass Mary Lynn die Scheidung von ihm verlangte, hatte sein Leben von Grund auf verändert, und lange Zeit hatte er alles für einen schrecklichen Fehler gehalten. Sein Stolz, sein Selbstbewusstsein, seine Identität – alles hatte unter dieser Scheidung gelitten. Fast ein ganzes Jahr hatte er dazu gebraucht, sich aus dem dunklen Tunnel wieder ans Licht empor
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