Hard News
Krankenhausabteilung. Ein Wärter begleitete sie, ein massiger Schwarzer mit breiter Brust. Seine Uniform passte ihm nicht gut. Die glänzenden blauen Kragenknöpfe, einer mit einem D, einer mit einem C beschriftet für Department of Corrections, hatte sie gerade in Augenhöhe. Er schwieg.
Randy Boggs sah alles andere als gut aus. Er war kreideweiß, und das Spray oder die Creme, die er für seine Haare benutzte, ließ diese nach allen Richtungen abstehen. Am meisten beunruhigten Rune seine Augen. Sie blickten ziellos und starr. Gott, waren die gruselig. Leichenaugen.
»Sie sind’s, Miss.« Er nickte. »Sie sind den ganzen Weg gekommen, um mich zu besuchen.«
»Werden Sie wieder gesund?«
»Hab mir ’ne ziemlich nette Narbe eingefangen. Aber das Messer hat an allen wichtigen Sachen vorbeigetroffen.«
»Was ist denn passiert?«
»Weiß ich gar nicht genau. Ich war im Hof und bin rückwärts gezogen worden, und jemand hat mich gestochen.«
»Den müssen Sie doch gesehen haben.«
»Nee. Nicht die Spur.«
»War es am Tag?«
»Jawoll. Heute Morgen.«
»Wie kann jemand Sie niederstechen, und Sie sehen es nicht?«
Boggs versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. »Leute werden unsichtbar hier.«
»Aber …«, sagte sie.
»Schauen Sie …« In seine Augen trat kurz Leben, dann wurden sie wieder stumpf. »… wir sind hier im Gefängnis. Nicht in der richtigen Welt. Wir haben ganz andere Regeln hier.« Er hob die Hand in Magenhöhe und berührte seinen Bauch. Er legte den Kopf in die Kissen zurück und presste seinen dürren, sehnigen Unterarm auf die Augen. »Verdammich«, flüsterte er.
Sie beobachtete ihn eine lange Minute in dieser Position und bedauerte, die Kamera nicht mitgebracht zu haben. Aber dann kam sie zu dem Schluss, nein, es war besser, dass das hier vertraulich blieb. Er gehörte zu der Sorte Mann, die auf keinen Fall will, dass jemand sie weinen sieht.
»Ich hab Ihnen was mitgebracht.«
Sie öffnete ihre Tasche und holte ein altes Buch hervor, zerlesen und eselsohrig. Sie hielt es ihm hin. Die Seiten waren in Gold gefasst.
Boggs senkte den Arm und sah so verlegen aus, als hätte ihm noch nie jemand etwas geschenkt und als frage er sich, was wohl als Gegenleistung von ihm verlangt wurde.
»Es ist ein Buch«, sagte sie.
»Dacht ich mir schon.« Er schlug es auf. »Sieht ziemlich alt aus.«
Er blätterte zur Copyrightseite. »Neunzehn null vier. Jau, das is ’n Stück. In dem Jahr ist meine Großmutter geboren. Was ist das?«
»Es ist nicht so, dass es viel Geld wert wäre oder so.«
»Was ist es, so Märchen?«
»Griechische und römische Sagen.«
Wenigstens wurden seine Augen wieder lebendig. Auf seine Lippen trat sogar ein leichtes Lächeln, als er die Seiten umdrehte und die Bilder betrachtete, die mit Papier geschützt waren.
»Da gibt’s eine Geschichte, die müssen Sie lesen. Eine ganz besonders.« Sie blätterte um. »Da.«
Er schaute hin. »Prometheus. War das nicht der Kerl, der Flügel aus Wachs oder so was gebaut hat?«
»Äh, nee. Das war ’n anderer Typ.«
Boggs blinzelte. »Hey, guck ma.«
Sie folgte seinem Blick zu der alten Illustration. »Tja«, sagte sie lachend und rückte vor. Prometheus an einen Felsen gekettet, während ein riesiger Vogel herunterschwebte und an seiner Seite zerrte. »Genau wie Sie – als sie niedergestochen wurden. Ist das nicht der Wahnsinn?«
Er klappte das Buch zu und las ein paar Bruchstücke des Buchrückens von dem dünnen Laken. »Sagen Sie mal, Miss, sind Sie ’n Collegegirl?«
»Ich? Nee.«
»Wie kommt’s dann, dass Sie so ’n Zeug wissen?« Er hielt das Buch hoch.
Sie zuckte die Achseln. »Ich lese einfach gern.«
»Irgendwie hab ich immer bedauert, dass ich nicht schlau genug war, um aufs College zu gehen.«
»Nee, so würd ich das nicht sehen, wenn ich Sie wäre«, sagte sie. »Man geht aufs College, kriegt ’nen richtigen Job, heiratet, und was passiert? Man kriegt nie die Chance, im Leben mal die Sau rauszulassen. Und das ist doch der Spaß an der Sache.«
Er nickte. »Ich konnt sowieso nie lange genug still sitzen in der Schule.« Er schaute sie einen Moment lang an und ließ den Blick an ihr auf- und abgleiten. »Erzählen Sie mir was über sich.«
»Über mich?« Mit einem Mal wurde sie verlegen.
»Na klar. Ich hab Ihnen von mir erzählt. Erinnern Sie mich, wie das Leben draußen ist. Ist ’ne Weile her für mich.«
»Ich weiß nicht …« So fühlen sich also die Leute, die ich interviewe, dachte
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