Hardball - Paretsky, S: Hardball - Hardball
Tag vor dem Schneesturm. Es ist merkwürdig, an wie wenig man sich auch bei Ereignissen erinnert, die man selbst miterlebt hat. Als ich die Seiten abrollen ließ, war ich nicht sonderlich überrascht, dass ich mich an die politischen und überregionalen Nachrichten kaum erinnerte. Johnsons Vietnam-Kriegsetat, die Studentenproteste in Berkeley, die der kalifornische Gouverneur Ronald Reagan als kommunistische Verschwörung gegen Amerika bezeichnete, der Minirock, den die Gattin eines Senators getragen hatte – ich war damals in der fünften Klasse gewesen, und diese Sachen waren völlig an mir vorbeigegangen.
Verblüffend fand ich, dass ich offenbar auch von den lokalen Ereignissen nichts mitbekommen hatte. So hatte ich die Tornados völlig vergessen, die am Tag vor dem Schneesturm über die South Side hinweggezogen waren. Sie hatten drei Meilen von meinem Elternhaus entfernt, an der Ecke 87ste und Stony Island Avenue, ein halb fertiges Lagerhaus eingerissen. Dabei war ein Polizist ums Leben gekommen. Die Fotos waren schrecklich: Hohlblocksteine lagen wie Legosteine herum, die ein wütendes Kleinkind im Zimmer verstreut hat. Das Dach eines VW -Käfers ragte gerade noch aus den Trümmern hervor. Und dann, am nächsten Tag, waren über sechzig Zentimeter Schnee gefallen und hatten alles begraben: den Schutt, die Fabriken, die Straßen, die Lebenden und die Toten.
Meine Erinnerungen an den Schneesturm bezogen sich aber nicht auf die Tornados, auch nicht auf den toten Polizisten, obwohl jeder Unfall eines Polizisten ein Grund zur Sorge für meine Mutter und mich war. Woran ich mich erinnerte, war, dass meine Mutter mich von der Schule abholte. Sie tat das sonst nie, und als ich sie vor der Schule stehen sah, hatte ich große Angst, weil ich dachte, dass meinem Vater etwas passiert war.
Dass sie sich wegen des Schneesturms Sorgen machte, fand ich irgendwie lustig. Die meterhohen Schneewehen waren aufregend, sie waren ein herrlicher Spielplatz, kein Grund zur Besorgnis. Nach einem Jahr der politischen Proteste und Unruhen, in dem meine Mutter nachts oft nicht geschlafen, sondern darauf gewartet hatte, dass Tony endlich nach Hause kam, dachte ich immer als Erstes an meinen Vater, wenn sie etwas Ungewöhnliches tat. Schließlich hatte ich selbst auch oft genug auf dem Treppenabsatz gekauert und sie beobachtet oder gleich mit ihr am Küchentisch gesessen.
»Tu e Bernardo, spericolatti e testardi tutti le due, voi!« , sagte sie auf italienisch zu mir und ergriff meine Hand. »Stur und rücksichtslos seid ihr! Wenn man euch nicht daran hindert, geht ihr noch in diesem Blizzard verloren!« Bernardo, das war mein Vetter Boom-Boom, der denselben Vornamen trug wie sein Vater.
»Ich bin doch kein Baby!«, rief ich und riss mich los, wobei mein dicker Handschuh in ihren Händen zurückblieb. »Was sollen meine Freundinnen von mir denken?«
Es kränkte sie, dass ich nicht auf Italienisch antwortete. Aber das war Absicht von mir. Ich hatte insgeheim vorgehabt, mit meinem Vetter Boom-Boom, der auf die katholische Schule ging, zum Calumet River zu gehen und zu sehen, ob es schon Eis gab. Dass mich meine Mutter erwischt hatte, machte mich sauer, besonders, als sie mich dann zwang, eine Stunde lang Klavier zu üben, als wir nach Hause kamen.
Jetzt, in der Bibliothek, bedauerte ich natürlich wieder einmal, dass ich den Wünschen meiner Mutter nicht gefolgt war und Musik studiert hatte. Ich könnte heute wahrscheinlich ganz vorzeigbar Klavier spielen, vielleicht sogar professionell. Warum hatte ich mich so gegen das Üben gewehrt? Wahrscheinlich war ich unbewusst eifersüchtig auf die Musik und das, was sie für meine Mutter bedeutete. Wer konnte schon mit Mozart konkurrieren? Unwillkürlich summte ich die Lieblingsarie meiner Mutter laut vor mich hin: »Mi tradì quell’alma ingrata!«
Offenbar war ich etwas zu laut geworden, denn einige Leute im Lesesaal drehten sich um, und ich wurde knallrot. Zum Glück war es dunkel. Verlegen zog ich den Kopf ein und schaute mit starrem Blick auf den Bildschirm.
Ich konzentrierte mich auf die Tötungsdelikte zwischen Ende Januar und Ende Februar 1967. Es wurde ausführlicher darüber berichtet als heute, weil die Gesamtzahlen niedriger waren, aber irgendwelche nicht identifizierten Leichen entdeckte ich nicht.
Dafür fand ich ein Interview mit Mitgliedern der Blackstone Rangers, die sich als legitimes Sprachrohr der Schwarzen auf der South Side dazustellen versuchten. Ausführlich
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