Harlekins Mond
sie wie wir – sie wollen überleben. Und keiner von ihnen zeigt irgendwelche Anzeichen von Größenwahn.«
»Wieso hat mich niemand in diese Sache eingeweiht?«, wollte Gabriel wissen.
Treesa lächelte begütigend. »Du hattest doch unsere Position gegenüber dem Hohen Rat bereits vertreten, und das sogar ziemlich gut – selbst wenn du damit die falschen Ziele verfolgt hast. Du hast versucht, den Mondgeborenen zu mehr Wissen und Mitspracherecht zu verhelfen. Wozu also unnötig das Risiko erhöhen? Wir hatten Angst, du würdest alles, was du für gefährlich hieltest, dem Hohen Rat melden. Du bist so … so an Traditionen gebunden. Das Gleiche, das auch John zunächst gebunden hatte.« Treesa schaute hinüber zu ihrem Geliebten und lächelte schmal. »Mit etwas Derartigem wie dem, was heute passiert ist … haben wir einfach nie gerechnet.«
»Inwiefern waren meine Ziele falsch?«, fragte Gabriel leise.
Abermals lächelte ihn Treesa freundlich an, fast ein wenig begütigend, wie eine Großmutter. Er biss die Zähne zusammen, als sie erwiderte: »Sagen wir einfach, sie waren anders. Du hast versucht, die Menschen für Ymir zu retten. Nun, wir haben versucht, Selene für die Mondgeborenen zu retten. Wir haben an Bord nicht genügend Platz für alle Mondgeborenen, und wir können sie genauso wenig alle zum Ymir mitnehmen, wie ich meinen Verlobten von der Leif Eriksson zurückbekommen kann. Es gibt Dinge, die sind schlicht und einfach nicht möglich. Aber es ist möglich, ein besseres Arrangement als das momentane zu treffen.«
Gabriel fiel noch etwas anderes ein. »Wer gehört sonst noch zu euch?«
»Kyu. Und Bruce, obwohl wir ihm nichts von Untertan erzählt haben. Kyu weiß darüber ebenfalls nichts.«
Kyu. Kyu und John – das waren zwei Mitglieder des Hohen Rates. Waren. Vergangenheitsform. John war zurückgetreten. Liren und Rieh waren nicht an der Sache beteiligt; Liren war Teil des Problems, und Rieh blieb kalt, wann immer er konnte. Gabriel schwirrte der Kopf. »Cläre?«
»Sie war eine zu enge Freundin von Liren«, erklärte Treesa. »Das Gleiche gilt auch für Erika. Aber von jetzt an wird das Ganze vielleicht ein wenig anders laufen.«
Über den Wassern, über der Zuflucht, wütete der Strahlungssturm.
KAPITEL 71
STRAHLUNGSSTURM
Die Zeit spielte Rachel Streiche; sie schien sich in regelmäßigen Abständen zu beschleunigen und wieder zu verlangsamen. Selbst während sie mit Untertan redete und Treesas Erzählung lauschte, liefen vor ihrem geistigen Auge immer und immer wieder Todesszenen ab. Dylan, wie er fiel. Ihr Vater, wie er auf der Couch starb; wie sein Atem mit einem Rasseln zum Stillstand kam. Jacob, dem sich eine lange Glasscherbe in den Hals grub. Das Blut an ihren Händen.
Sie sah zu, wie Gabriel sein Datenfenster erweiterte und es so positionierte, dass jeder der Anwesenden es im Blick hatte. Drei weitere Fenster öffneten sich drumherum; Beiträge der anderen, nahm sie an. Eines überwachte den Status der Kommunikationssatelliten, eines zeigte einen Blick aus der Luft hinunter auf Camp Clarke, ein weiteres eine Sicht auf Aldrin.
Rachel krümmte sich innerlich bei dem Gedanken, dass sich die Rumpfmannschaft in Aldrin vermutlich wie gewohnt in den Strahlenschutzräumen innerhalb der Häuser aufhielt, oder in dem alten unterirdischen Bunker aus der Zeit, als die Stadt noch aus Zelten bestanden hatte. Das würde womöglich nicht genügen – nicht, wenn sie die Dimensionen dieser Eruption richtig einschätzte. »Untertan«, flüsterte sie, »wo befinden sich die Leute in Aldrin?«
»Im alten Strahlenschutzbunker.«
Ein Gedanke nagte an ihr. »Wären sie sicherer innerhalb des Schiffes – in der Wasserträger? Sind nicht Teile davon genauso geschützt wie die John Glenn?«
»Der dortige Schutz würde verlässlicher funktionieren. Der Lebenserhaltungsbereich der Wasserträger ist sehr gut abgeschirmt.«
Rachel leitete die Information an Gabriel weiter und sah gleich darauf in dem Datenfenster, wie Leute über die Wiesen jagten und in dem beschädigten Schiff verschwanden.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Fenster mit der Luftaufnahme von Camp Clarke zu. Sie konnte das Lagerhaus erkennen. Zwei winzig wirkende leblose Körper lagen wie fortgeworfene Gliederpuppen auf dem Dach. Ein gelber Fetzen von der Bespannung einer ihrer gebrochenen Schwingen flatterte im Wind. Rachel hätte am liebsten die Augen geschlossen und so getan, als sei nichts von alledem geschehen. Es
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