Harper Connelly 02 - Falsches Grab-neu-ok-10.12.11
sein«, sagte ich und versuchte sowohl sanft als auch
ermutigend zu klingen.
»Ja, das
stimmt«, sagte er nüchtern. »Meine Noten wurden immer schlechter und ich
vermisste meine Schwester, es war die Hölle. Mein Dad versuchte,
weiterhin zur Arbeit zu gehen, und meine Mom stand auf
und versuchte, das Haus zu putzen oder zu kochen oder mit Freundinnen essen zu
gehen, aber sie hat die ganze Zeit nur geheult.«
»Der Verlust
eines Angehörigen verändert vieles«, sagte ich, aber das hätte ich mir genauso
gut sparen können. Wie ich aus eigener Erfahrung wusste, gab das nicht im
Geringsten wieder, was das plötzliche Verschwinden einer Schwester wirklich
auslösen kann. Ich hatte keine Ahnung, worauf Victor hinauswollte, wurde aber
immer neugieriger. So neugierig, dass ich schon anfing Konversation zu machen,
nur um die Unterhaltung in Gang zu halten.
»Ja«, sagte
er nur. »Allerdings.« Er schien sich wieder zusammenzureißen. »Sie erinnern
sich noch an den Vormittag? An den Vormittag, an dem sie - verschwand?«
»Hm-hm«,
sagte ich.
»Mein Dad war in der Nachbarschaft«, sagte er hastig. »Ich hab ein
paar Blocks weiter sein Auto entdeckt.«
Ich sprang
zwar nicht auf und schrie auch nicht »Oh mein Gott!«, aber es fiel mir
unheimlich schwer, gelassen zu bleiben. »Ach ja?«, sagte ich möglichst ruhig.
»Ja, weil
... ich meine, ich habe Tennis gespielt«, sagte Victor. »Aber danach...
ich hatte nämlich einen Freund in Nashville , keinen wie
Barney natürlich, aber einen Freund, und wir haben uns getroffen. Danach
brauchte ich eine Dusche, also dachte ich, ich fahr kurz nach Hause. Aber auf
dem Heimweg sah ich Dads Auto an der Ampel stehen, etwa
zwei Blocks von unserem Zuhause entfernt. Deshalb hatte ich Angst, dass er was
merkt. Ich mein, was hätte er schon groß merken sollen - trotzdem, Eltern halt.«
Victor zuckte die Achseln. »Also bin ich einfach zurück zum Tennisplatz, hab
dort ein bisschen trainiert und ein paar Freunde getroffen, die zum Spielen
gekommen waren. Der Tennisplatz ist nur zehn Minuten von zu Hause weg, und als
ich zurückkam, fand ich sogar denselben Parkplatz wie vorher, so dass ich
problemlos behaupten konnte, nie weg gewesen zu sein.«
Tolliver und
ich waren beide ziemlich erstaunt über seine Zusammenfassung der Ereignisse.
»Ich konnte
natürlich nichts sagen«, meinte Victor.
»Ich kann
verstehen, dass das schwierig gewesen wäre«, sagte Tolliver.
»Ja, denn
dann hätte eins zum anderen geführt, und alles wäre rausgekommen. Das mit mir.«
Natürlich
drehte sich die ganze Welt nur um Victor. »Also wissen es deine Eltern immer
noch nicht?«, fragte ich.
»Um Himmels
willen, nein!« Er und Barney verdrehten die Augen. »Mom und Dad würden total
ausflippen.«
»Meine Mom
ist da absolut cool, was ich echt klasse finde«, sagte Barney. Ich war
erleichtert, dass er überhaupt reden konnte.
Ich hatte eigentlich
gemeint, dass Victors Eltern nichts davon wussten, dass er das Auto gesehen
hatte, aber natürlich hatte Victor meine Bemerkung anders interpretiert.
»Bist du
sicher, dass es das Auto deines Vaters war?«, fragte Tolliver.
»Hundertprozentig sicher?«
»Ja,
absolut«, sagte Victor, so als würde er mit dem Rücken zur Wand stehen, während
eine Waffe auf ihn gerichtet war. »Natürlich, Mann. Ich kenne doch den Wagen
meines Vaters.«
Ich hatte
noch nie erlebt, dass Tolliver »Mann« genannt wurde, und selbst unter diesen
Umständen fand ich es lustig.
»Was fährt
er denn für einen?«, fragte ich Victor.
»Einen Lexus
mit Hybridantrieb. Metallic mit elfenbeinfarbenen
Ledersitzen. Wir haben uns die Website bestimmt eine Woche lang angesehen,
bevor wir das Auto bestellt haben.«
Das war
durchaus auffällig und ließ sich nicht so leicht mit einem anderen Auto
verwechseln. Ich merkte, dass ich bitter enttäuscht war. Als hätte sich ein von
mir heiß geliebter Hund plötzlich umgedreht und mich gebissen.
»Und du hast
ihn nie darauf angesprochen?«, fragte ich ungläubig. »Du erzählst mir hier
gerade, dass dein Dad Gelegenheit hatte, deine
Schwester zu entführen. Du wusstest es die ganze Zeit und hast es nie erwähnt.«
Victor wurde
knallrot. Barney musterte mich mit unverhohlener Feindseligkeit.
»Du hast uns
soeben erzählt, dass dein Vater über seinen Aufenthaltsort gelogen hat«, sagte
ich, als sie schwiegen. »Und dass er höchstwahrscheinlich deine Schwester
entführt und umgebracht hat. Ist dir das eigentlich klar?«
Er hob den
Kopf und hätte
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