Harper Connelly 04 - Grabeshauch
mussten?«
Er schüttelte den Kopf. Keine Ahnung, ob das heißen sollte, dass er nichts davon gewusst hatte oder nur, dass er nicht darüber
reden wollte. Ich hatte den Verdacht, dass er sich nicht noch mehr belasten wollte, indem er zugab, schon auf der Fahrt zu
den Joyces gewusst zu haben, eine Patientin unter mehr oder weniger illegalen Umständen behandeln zu müssen.
»Was hat sie gesagt?«, fragte ich.
»Sie hat nicht viel gesagt. Sie war furchtbar mitgenommen, und es ging ihr sehr, sehr schlecht. Sie hatte hohes Fieber, sie
schwitzte, zitterte und war äußerst instabil. Sie redete zusammenhangloses Zeug. Ich verstand nicht, warum der Mann sie nicht
ins Krankenhaus gebracht hatte, woraufhin der meinte, sie hätte das nicht gewollt. Sie dürfe eigentlich gar kein Kind kriegen,
das Ganze sei eine extrem heikle Familienangelegenheit. Er behauptete, das Baby sei aus einer inzestuösen Beziehung hervorgegangen.«
Dr. Bowdens Lippen schlossen sich auf eine Art, die keinen Zweifel daran ließ, wie unwohl er sich bei diesem Wort gefühlt hatte.
»Er meinte, sie sei eine Art Liebling des alten Mr Joyce und wolle das Kind bekommen, ohne dass dieser etwas davon erfuhr.
Dann wolle sie das Baby zur Adoption freigeben und ihren Job fortsetzen. Die mit der Zeugung verbundenen Erinnerungen wären
zu schlimm, als dass sie es behalten wolle.«
Und das haben Sie geglaubt?, wollte ich schon fragen, wusste aber, dass ich sein Geständnis nicht unterbrechen durfte. Er
gab bereitwilliger Auskunft als vermutet. Wahrscheinlich lastete diese Sache schon seit Jahren auf seiner Seele. Ich wunderte
mich kurz, welche Biographie dieser Mann hatte, dass er auf so etwas reingefallen war. Natürlichdurfte man auch die Geldgier nicht vergessen, die sein Verhalten beeinflusst hatte.
»Sie hatte gar keine Familie«, sagte Manfred, und nach einer Sekunde begriff Dr. Bowden die Tragweite von Manfreds Behauptung. Er starrte stur auf seinen Schreibtisch. Ich hätte Manfred am liebsten eine
heruntergehauen, weil er ihn unterbrochen hatte. Andererseits hatte er bloß ausgesprochen, was ich ebenfalls dachte.
»Ich wusste es nicht mit Sicherheit«, murmelte Bowden. »Der Mann, der mich zur Ranch fuhr … Ich hielt ihn für Drexell Joyce, den Sohn. Ich dachte, das Kind wäre wahrscheinlich seines. Vielleicht schämte er sich,
seinem Großvater zu gestehen, dass er seine Frau betrogen hatte. Er trug einen Ehering, und Ms Parish hatte keinen.«
»Hat sie mit Ihnen gesprochen?«, fragte ich.
»Wer?«
»Mariah. Hat sie mit Ihnen gesprochen?« Eigentlich eine ganz einfache Frage, aber Tom Bowden rutschte unruhig auf seinem schwarzen
Ledersessel hin und her.
»Nein«, sagte er seufzend. Manfred hob einen Finger, knapp außerhalb meines Gesichtsfelds. Er glaubte dem Arzt nicht.
»Und was ist dann passiert?«, fragte ich, denn wir konnten die Wahrheit schlecht aus ihm herausprügeln.
»Ich säuberte die Frau, was mir allerdings nicht leicht fiel«, sagte Dr. Bowden. »Ich wollte einen Krankenwagen rufen und sagte das dem Mann auch, aber der meinte, das käme gar nicht infrage. Ich
ging meinen Mantel holen, in dem mein Handy steckte, aber er hatte es bereits aus der Manteltasche gezogen und wollte es mir
nicht geben. Ich musste die Patientin behandeln und hatte keine Zeit, mit ihm um das Handy zu streiten. Sie lag mehr oder
weniger im Sterben. Selbst wenn ich sie innerhalb einer Stunde ins Krankenhaus geschafft hätte – und das nächste Krankenhaus
war etwa eineStunde mit dem Auto entfernt –, hätte sie nicht überlebt. Sie hatte eine schlimme Infektion.«
»Mit anderen Worten, sie ist in jener Nacht gestorben.«
»Ja. Etwa anderthalb Stunden nach meiner Ankunft starb sie. Sie konnte das Baby noch im Arm halten.«
Wir schwiegen einen Moment. »Und was ist dann passiert?«, fragte Manfred.
»Der Mann bat mich, das Baby zu untersuchen, und ich stellte fest, dass es gesund war. Sie hatte etwas Fieber, aber nichts
Ernstes. Rein körperlich war alles mit ihr in Ordnung.«
»Das Baby war ein Mädchen.«
»Ja. Sie war winzig, aber bei der richtigen Behandlung würde es ihr gut gehen. Er fragte, ob ich alles dabei hätte, was sie
brauche. Er würde das Kind direkt zu den Adoptiveltern bringen. Ich hatte tatsächlich einige Antibiotika dabei, Muster eines
Pharmavertreters. Ich nannte ihm die Dosis und erklärte die Art der Verabreichung, und er brachte das Baby aus dem Zimmer.
Das war das
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