Harper Connelly 04 - Grabeshauch
saß bei Tolliver auf dem Sofa, also nahm ich den Sessel. Ich schlug
die Beine übereinander und schlang die Hände um mein Knie. »Heute Morgen war das Wetter wirklich scheußlich, stimmt’s, Matthew?«
Er sah mich überrascht an. »Ja, der Verkehr war furchtbar. Aber so ist das nun mal in Dallas. Und dann noch der Regen.«
»Hattest du heute Vormittag etwas zu erledigen?«
»Oh ja, so dies und das. Um halb drei muss ich in der Arbeit sein.«
Arbeitete er tatsächlich bei McDonald’s? Oder traf er sich mit einem der Joyces? Hatte er schon immer in ihren Diensten gestanden?
Und der Mann, den ich über alles liebte, der einzige, den ich aufrichtig liebte, war der Sohn dieses Mannes.
Tolliver mochte Probleme damit haben, aber mir war das egal. Ich weiß besser als jeder andere, dass man von den Kindern nicht
auf die Eltern schließen darf. Ich war von derselben Frau großgezogen worden, die ihre zwei kleinen Töchter so sehr vernachlässigt
hatte, dass ihre älteren Kinder sich um sie kümmern mussten.
Ich war der Meinung, dass ich etwas wohlgeratener war als meine Mutter.
Aber wenn ich Matthew Lang tötete – wäre ich dann wirklich noch besser als meine Mutter?
Nun, wenigstens hätte ich meine Entscheidung bei klarem Verstand gefällt.
Das wohl kaum!,
sagte mein vernünftigeres Selbst
. Erstickst du nicht förmlich an deinem Hass?
Das stimmte. Aber war es nicht besser, jemanden umzubringen, wenn man ihn so sehr hasste? Oder war es tugendhafter, zu warten,
bis man ruhig und beherrscht war?
Dann hätte ich auf jeden Fall mehr Chancen, ungeschoren davonzukommen und ein Leben mit Tolliver zu führen, anstatt mich mit
einem Haufen Frauen im Gefängnis anzufreunden. Genauso hatte das Leben meiner Mutter geendet … und ich war nicht so wie meine Mutter. Auf gar keinen Fall.
Ich muss ein ziemlich merkwürdiges Gesicht gemacht haben, während mir das alles durch den Kopf ging, auch wenn es kein fortlaufender
Gedankenstrom, sondern eher Gedankenblitze waren.
Tollivers Mimik nach zu urteilen, hätte er mich gern gefragt,ob alles in Ordnung sei. Doch vor Matthew verzichtete er lieber darauf. Dieser hatte sich an Tolliver gewandt und kehrte mir
Gott sei Dank überwiegend den Rücken zu.
Ich versuchte, mich auf ihr Gespräch zu konzentrieren. Matthew fragte Tolliver, ob er je daran gedacht habe, sein Studium
abzuschließen. Was er davon halte, auf eines der vielen Colleges in Dallas zu gehen, wenn wir hierher zogen. Und dass Tolliver
bestimmt einen guten Job fände, wenn er erst mal seinen Abschluss hätte. Dann wäre er auch nicht mehr von mir abhängig.
Matthew wollte eindeutig einen Keil zwischen uns treiben. Tolliver war empört. »Ich bin nicht von Harper abhängig«, sagte
er.
»Du hast keinen Job, außer dem, sie zu begleiten, während sie … was auch immer«, sagte sein Dad.
»Ich sorge dafür, dass sie ihren Job erledigen kann«, sagte Tolliver. Ich merkte, dass dieses Gespräch nicht zum ersten Mal
geführt wurde, nur dass ich vorher nie dabei gewesen war. Mein Hass wuchs ins Unermessliche. »Würde ich Harper nicht begleiten,
könnte sie diese Arbeit gar nicht machen.«
»Er hat vollkommen recht«, sagte ich. »Mir wird schlecht von meiner Arbeit, und ohne Tolliver wäre ich dem hilflos ausgeliefert«,
erklärte ich so sachlich wie möglich. Ich wollte mich nicht verteidigen, wo es nichts zu verteidigen gab.
»Du kannst dir viel einreden«, sagte Matthew zu Tolliver und überhörte meinen Einwurf. »Aber letztlich muss sich jeder selbst
behaupten.«
»So wie du?«, fragte ich. »Indem du Drogen verkauft und zugelassen hast, dass deine Frau mich an den Meistbietenden verhökert?
Hast du dich behauptet, indem du deine Anwaltskanzlei aufgegeben hast und stattdessen im Gefängnis gelandet bist?«
Matthew wurde rot. Jetzt konnte er mich nicht länger ignorieren.»Harper, ich versuche nur, ein guter Vater zu sein. Ich weiß, dass es dafür zu spät ist. Und ich weiß auch, dass ich abscheuliche
Dinge getan habe, von denen mir noch im Nachhinein schlecht wird. Aber ich versuche, die Beziehung zu meinem
Sohn
zu retten. Ich weiß, dass er dich ›liebt‹, aber manchmal solltest du dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten kümmern
und mich in Ruhe mit ihm reden lassen.«
Dabei setzte er das Wort ›liebt‹ hörbar in Anführungszeichen.
Tolliver sagte: »Harper soll sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Ich liebe sie. Es ist zu spät, und du
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