Harpyien-Träume
Blick der Gorgone zu versteinern. Aber man wußte ja nie, wozu die Dinge fähig waren. Gloha wußte, daß tote Gegenstände äußerst lebhaft werden konnten, wenn K ö nig Dor in der Nähe war. Sobald ein Mädchen über einen Stein trat, konnte es geschehen, daß der Stein Bemerkungen über ihre Beine zum besten gab und möglicherweise sogar die Farbe ihrer Höschen verriet – zur größten Verlegenheit des Mädchens. Da schien es nicht allzu abwegig, daß ein Käse sehen konnte.
Wira führte sie zu einer weiteren Wendeltreppe. Dort war es so düster und dunkel, daß Gloha zögerte, weil sie fürchtete, einen Fehltritt zu tun.
»Ach, das tut mir leid«, sagte Wira reumütig. »Ich habe ganz ve r gessen, daß du ja sehen kannst.« Sie machte eine Handbewegung, worauf die Wände aufglühten und die Treppe beleuchteten.
»Danke«, sagte Gloha. »Ich benutze normalerweise sowieso keine Treppen. Im Harpyienstock gibt es keine.«
»Es muß Spaß machen, fliegen zu können«, meinte Wira. »Ich hätte es natürlich nie gekonnt, selbst als ich noch jung war.«
»Als du noch jung warst?« Die Frau war zwar doppelt so groß wie Gloha – schließlich war sie ein ausgewachsener Mensch –, doch sie sah nicht älter aus als Gloha selbst.
»Als ich noch ein Kind war, meine ich. Technisch gesehen bin ich zwar einundvierzig, aber ich bin erst seit neunzehn Jahren wach. Deshalb hat der Gute Magier mich mit Hilfe des Jugendel i xiers wieder jünger gemacht, um meinem subjektiven Alter zu en t sprechen. Deshalb betrachte ich mich selbst als neunzehn, was ich körperlich ja auch bin. Aber meine Jugend liegt schon lange z u rück.«
»Du hast zweiundzwanzig Jahre lang geschlafen?« Das wurde ja alles immer erstaunlicher!
»Ja. Meine Familie konnte sich mich nicht leisten, weil ich nicht besonders nützlich war. Deshalb haben sie mich mit sechzehn schlafen gelegt. Dann bin ich im Traumreich Hugo begegnet, der war auch sechzehn, und so kannten wir uns zehn Jahre lang im Schlaf. Danach sind wir alle zusammen aufgewacht, als der Magier Humfrey zurückgekehrt ist. Wir haben unser Alter angeglichen und leben seitdem schon drei Jahre lang ganz normal. Der Gute Magier hält sein Alter gern um die Hundert, obwohl er in Wir k lichkeit hundertsechzig ist, genau wie seine Halbfrau MähreAnn.«
»Ist die in Wahrheit auch hundert Jahre alt?«
Wira lachte. »Nein, nein. Sie zieht es vor, etwas jünger zu sein. Sie meint, nun, da sie ihre Unschuld verloren hat, könnte sie g e nauso gut ein Alter haben, in dem sie was vom Leben hat. Offe n bar sind alte Frauen nicht so anziehend wie alte Männer. Inzw i schen verrät sie nicht mehr, wie alt sie eigentlich ist.«
»Das Leben hier scheint wirklich kompliziert zu sein«, warf Gl o ha ein. Sie war sich nicht sicher, daß es ihr gelingen würde, all diese Lebensalter auseinanderzuhalten, selbst wenn einige davon unb e kannt blieben.
»O nein, das Leben hier ist angenehm schlicht«, widersprach W i ra. »Kompliziert ist nur der Hintergrund. Vergiß ihn einfach, dann hast du auch keine Schwierigkeiten.«
Das schien ein kluger Rat zu sein.
Sie gelangten in eine Kammer, irgendwo tief im Innern des Schlosses verborgen. Sie war bis zum Bersten mit Büchern, Schriftrollen und kleinen Fläschchen gefüllt, die mit Stopfen ve r schlossen waren. In der Mitte hockte ein uralter, gnomähnlicher kleiner Mann, kaum größer als Gloha.
»Guter Magier, Gloha ist hier«, verkündete Wira. »Um ihre Frage zu stellen.«
Der Gnom hob mit solcher Mühe den Blick von seinem Wälzer, daß Gloha fast schon meinte, ein reißendes Geräusch zu verne h men. »Geh und suche meinen zweiten Sohn auf«, sagte der kleine Mann knurrig. Dann richtete er den Blick wieder auf den Wälzer.
»Aber ich habe meine Frage doch noch gar nicht gestellt!« pr o testierte Gloha.
Wira stieß sie an. »Es ist besser, nicht mit ihm zu streiten. Er b e achtet es sowieso nicht.«
»Aber jetzt bin ich doch diese ganze weite Strecke gereist und habe all diese Herausforderungen gemeistert! Da will ich auch den Lohn für meine Mühe kriegen.«
»Bitte, verärgere ihn nicht.« Wira führte Gloha mit solch sorge n voller Miene davon, daß ihr nichts anderes übrig blieb, als Wira zu folgen. »Er ist ohnehin schon mürrisch genug.«
Doch als sie vor dem Magier in Sicherheit waren, trug Gloha i h ren Protest noch entschiedener vor. »Ich finde es ungerecht, daß ich erst diese ganzen Herausforderungen bewältigen muß, damit ich überhaupt
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