Harry Bosch 07 - Dunkler als die Nacht
ließ sie im Leerlauf laufen, während er wieder nach unten kletterte und nach achtern ging. Er löste die Heckleine und dann band er das Zodiac los und zog es zum Bug. Nachdem er die Leine der Muringboje von der vorderen Klampe gelöst hatte, band er das Schlauchboot daran fest. Jetzt war das Boot frei. Als er sich umdrehte und zur Brücke hochsah, glitt Buddy, sein Haar vom Schlaf noch ein drahtiges Nest, in den Steuermannssitz. McCaleb signalisierte ihm, dass er das Boot losgemacht hatte. Buddy schob die Gashebel nach vorn und die Following Sea setzte sich in Bewegung. McCaleb nahm den zweieinhalb Meter langen Bootshaken vom Deck und drückte damit die Boje vom Bug weg, als das Boot in die Fahrrinne bog und auf die Hafeneinfahrt zusteuerte.
McCaleb blieb, gegen die Reling gelehnt, im Vorschiff stehen und beobachtete, wie die Insel hinter dem Boot davonglitt. Er blickte wieder zu seinem Haus hoch, wo noch immer nur das eine Licht brannte. So früh war noch niemand von seiner Familie wach. Er dachte über den Fehler nach, den er gerade wissentlich gemacht hatte. Er hätte zum Haus hochfahren und Graciela sagen sollen, was er vorhatte, es ihr zu erklären versuchen. Aber er wusste, es würde ihn viel Zeit kosten und er könnte es ihr nie so erklären, dass sie einverstanden wäre. Deshalb beschloss er, einfach zu fahren. Er würde seine Frau nach der Überfahrt anrufen und sich später mit den Konsequenzen seiner Entscheidungen befassen.
Die Kühle der haigrauen Morgendämmerung hatte ihm die Haut an Hals und Armen gestrafft. Er drehte sich um und blickte aufs Meer hinaus, in die Richtung, wo, hinter einer dichten Dunstschicht verborgen, das Festland lag. Es rief böse Vorahnungen in ihm wach, wenn er etwas, von dem er wusste, dass es da war, nicht sehen konnte. Er senkte den Blick. Das Wasser, das der Bug durchschnitt, war flach und so schwarzblau wie die Haut eines Marlins. McCaleb wusste, dass er zu Buddy in die Brücke hinaufsteigen sollte, um ihm zu helfen. Während einer von ihnen steuerte, würde der andere den Radarschirm im Auge behalten, um das Boot sicher zum Los Angeles Harbor zu lotsen. Nur schade, dachte er, dass ihm an Land kein Radar zur Verfügung stünde, wenn er sich in diesem Fall zu orientieren versuchte. Dort erwartete ihn ein anders gearteter Nebel. Und seine Überlegungen, wie er sich darin zurechtfinden könnte, lenkten seine Gedanken auf den Aspekt des Falls, der ihn nicht mehr losließ.
Hab Acht Hab Acht Gott sieht
Die Wörter drehten sich wie ein neu gefundenes Mantra in seinem Kopf. In dem alles verhüllenden Nebel vor ihm war jemand, der diese Wörter ge schrieben hatte. Jemand, der sie bereits mindestens einmal in extremer Form befolgt hatte und wahrscheinlich wieder befolgen würde. McCaleb würde diese Person zu finden versuchen. Und er fragte sich, wessen Worte er befolgen würde, wenn er das tat. Gab es einen wahren Gott, der ihn auf diese Reise schickte?
Als ihn jemand an der Schulter berührte, ließ er vor Schreck fast den Bootshaken über Bord fallen und wirbelte herum. Es war Buddy.
»Herrgott, Mann, lass doch diesen Scheiß!«
»Alles in Ordnung?«
»Bevor du mich zu Tode erschreckt hast, schon. Was machst du überhaupt hier? Du solltest doch am Steuer sein.«
McCaleb blickte über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass sie die Hafenmarkierungen hinter sich gelassen hatten und sich auf dem offenen Meer befanden.
»Ich weiß auch nicht«, sagte Buddy. »Wie du hier gerade mit dem Bootshaken gestanden hast, hast du ausgesehen wie Ahab. Ich dachte, irgendwas stimmt nicht. Was machst du da die ganze Zeit?«
»Ich denke nach. Was dagegen? Schleich dich bloß nicht noch mal so von hinten an, Mann.«
»Dann sind wir ja jetzt wohl quitt.«
»Setz dich einfach wieder ans Steuer, Buddy. Ich komme gleich hoch. Und sieh mal nach dem Generator – bei dieser Gelegenheit können wir gleich die Batterien wieder aufladen.«
Als sich Buddy entfernte, beruhigte sich McCalebs Herz wieder. Er verließ das Vorschiff und steckte den Bootshaken in die Klemmen auf dem Deck zurück. Dabei spürte er, wie sich das Boot hob und senkte, als es eine etwa einen Meter hohe Welle abritt. Er richtete sich auf und hielt nach dem Auslöser des Kielwassers Ausschau. Aber er sah nichts. Es war ein Phantom gewesen, das sich über die glatte Oberfläche der Bucht bewegt hatte.
6
H arry Bosch hielt seinen Aktenkoffer wie einen Schild vor sich, als er sich einen Weg durch das Gedränge aus
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